02.08.2018 – 2022 / NSU 2.0 / Morddrohungen aus dem Polizeicomputer
Seit 2018 bekommen Rechtsanwält:innen, Politiker:innen, Journalist:innen und Kulturschaffende Drohmails und Drohfaxe, die zum Teil Informationen enthalten, die nur aus den polizeilichen Datenbanken stammen können. Begonnen hat die Serie mit dem Drohfax an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız. Başay-Yıldız ist vor allem für die Vertretung der Familie Şimşek im NSU-Prozess bekannt. Sie erhielt jedoch auch Anfeindungen für ihre Bereitschaft, in ausländerrechtlichen Verfahren auch als terroristisch eingestufte Islamisten zu vertreten.
Bei den Ermittlungen kam heraus, dass am Tag, als das Drohfax versendet wurde, diese Daten mit den Zugangsdaten einer Frankfurter Polizistin aus dem 1. Frankfurter Polizeirevier abgerufen wurden. Die Auswertung ihres Telefons brachte eine Chatgruppe (Itiotentreff) zu Tage, in der u.a. Polizist:innen dieses Reviers rassistische und NS-verherrlichende Nachrichten austauschten. Erste Ermittlungen ergaben, dass der Polizist Johannes S. die Drohschreiben verschickt haben soll.
https://entnazifizierungjetzt.de/november-2017-2020-kirtorf-polizei/
Nicht nur in Hessen, auch in Berlin und in Hamburg wurden Fälle öffentlich, in denen Polizist:innen illegal Daten abgefragt haben, in denen Polizist:innen Nazis mit Informationen versorgt haben oder zum Teil selbst in Nazi- und Reichsbürger-Gruppen aktiv waren.
Und obwohl nun schon einige Urheber:innen der Drohschreiben ermittelt wurden, gehen die Bedrohungen weiter. Offenbar gibt es ein Netzwerk von Nazis mit besten Beziehungen in die Sicherheitsbehörden, die untereinander die Informationen austauschen und die NSU 2.0 Drohbriefserie fortsetzen.
Seit Beginn der Serie wurde, wenn überhaupt, nur schleppend ermittelt.
Und vielleicht ist es auch kein Wunder, dass so wenig passierte, wenn z.B. im 1. Frankfurter Polizeirevier Beamt:innen sich in einer Nazi-Chatgruppe organisieren, die polizeilichen Datenbanken nutzen und vielleicht auch die Drohfaxe verschickten, ganz offenbar ohne Angst vor Entdeckung und Konsequenzen. Hier stinkt doch der ganze Fisch. Wenn eine solche Gruppe in einem Revier aktiv ist und sich so sicher fühlt, dann wissen noch mehr Menschen Bescheid – die Kolleg:innen, die Vorgesetzten, die Kontrollorgane: Und es stört offenbar niemanden, dass im 1. Frankfurter Revier rechtsextreme Polizist:innen ihr Unwesen treiben.
Vielleicht sollte die Polizei in Frankfurt aufgelöst und ganz neu aufgebaut werden, mit demokratisch eingestellten Menschen, die sich der Sicherheit der in Frankfurt lebenden Menschen verpflichtet fühlen – und nicht dem vergifteten Korpsgeist ihrer Spezialeinheiten.
Oder wie sonst könnte die Polizei das Vertrauen wieder herstellen?
Am 2. August 2018 erhält die Rechtsanwältin Başay-Yıldız das erste Drohfax, dass mit NSU 2.0 unterschrieben wurde. Mit der Kennung einer Beamtin des 1. Frankfurter Polizeireviers wurden Daten von ihr abgefragt.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizei-frankfurt-warum-die-affaere-um-rechtsextreme-chats-den-innenminister-unter-druck-setzt-a-1244681.html
Anfang Januar 2018 erhält Başay-Yıldız ein weiteres Drohfax.
https://taz.de/Neues-Drohfax-gegen-NSU-Opfer-Anwaeltin/!5563080/
Im Juni 2019 wird ein Polizist des 1. Frankfurter Polizeireviers kurzzeitig festgenommen. Er wird verdächtigt, die Drohfaxe verschickt zu haben. Er ist Teil der rechten Chatgruppe aus Polizist:innen dieses Reviers. Es ist Johannes S. – inzwischen (2021) glauben die Ermittler:innen nicht mehr daran, dass er der Täter ist..
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-06/seda-basay-yildiz-morddrohungen-polizeibeamter-festnahme
https://taz.de/taz-Recherche-zu-Drohmails/!5709468/
https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-rassismus-nsu-2-0-polizei-1.5226019
Im Februar 2020 erhält die Linken-Fraktionschefin im Hessischen Landtag, Janine Wissler, zwei Drohmails, die erhebliche Ähnlichkeiten zu den „NSU 2.0“ Schreiben aufweisen.
https://www.fr.de/rhein-main/rechtsextremismus-sti84176/hessische-linken-politikerin-janine-wissler-rechtextreme-drohungen-nsu-13821532.html
Am 09.07.2020 wird ein Wiesbadener Polizist vernommen, mit dessen Kennung Abfragen zu Janine Wissler von einem Polizeicomputer gemacht wurden. Er bestreitet den Vorwurf und wird deshalb nur als Zeuge vernommen.
https://www.spiegel.de/panorama/janine-wissler-linken-politikerin-erhaelt-morddrohungen-spur-fuehrt-zur-polizei-a-5021cb40-5a2f-4538-a83d-c8e6af17274e
Am 13.07.2020 wird das nächstes Opfer der NSU 2.0 Drohmails bekannt. Es ist die Kabarettistin Idil Baydar. Auch ihre Daten wurden von einem Polizeicomputer abgefragt.
https://www.fr.de/politik/20-spur-fall-baydars-fuehrt-polizei-13831153.html
Juli 2020 weitere Drohmails gehen z.B. an Journalistinnen.
https://www.hessenschau.de/gesellschaft/neue-nsu-20-mail-bedroht-auch-journalistinnen,neue-todesdrohungen-100.html
Im Juli 2020 erfährt die Öffentlichkeit, dass auch die Fraktionsvorsitzende der Berliner Linken, Anne Helm, und die Bundestagsabgeordnete Martina Renner Drohmails mit NSU 2.0. erhielten
https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/07/drohbrief-nsu-2-0-anne-helm-fraktionsvorsitzende-linke-berlin-abgeordnetenhaus.html
Am 27.07.2020 werden ein ehemaliger Polizist Hermann S. und seine Ehefrau kurzzeitig festgenommen, weil sie Drohmails mit NSU 2.0 verschickt haben sollen. Der Polizist ist ein bekannter neurechter Aktivist, hat aber wohl nicht illegale Daten abgefragt. Bei ihm wurden Waffen gefunden. Im September 2021 wird er wegen illegalen Waffenbesitzes angeklagt. Inzwischen gehen die Ermittler:innen davon aus, dass er ein Trittbrettfahrer ist. Das Verfahren wegen der Drohmails wird im Dezember 2021 eingestellt.
https://entnazifizierungjetzt.de/24-07-2020-landshut-polizei/
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/nsu-2-0-drohmails-was-ueber-den-verdaechtigen-hermann-s-bekannt-ist-a-d4147535-2638-4c3f-baa7-ed80092b488b
https://taz.de/Verdaechtiger-im-Fall-NSU-20/!5707237/
https://taz.de/Drohmail-Affaere-NSU-20/!5803586/
https://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-2-0-ex-polizist-ermittlungen-1.5490494
Am 29.07.2020 findet ein Prozess gegen den Verdächtigen André M. statt. Er ist kein Polizist.
https://www.zeit.de/2020/32/rechtsextremismus-morddrohungen-nsu-2-0-polizei-ermittlung/komplettansicht
12.08.2020 Die Staatsanwaltschaft in Berlin stellte die Ermittlungen zu Baydars NSU 2.0 Bedrohungen ein, weil sie nichts von den illegalen Datenabfragen erfuhr.
https://twitter.com/PvBebenburg/status/1293464001695883265/photo/1
13.08.2020 Die Datenschutzbeauftragte von Berlin beklagt die hartnäckige Weigerung der Berliner Polizei, die unrechtmäßigen Datenabfragen vollständig aufzuklären.
https://taz.de/Rechte-Anschlagsserie-in-Berlin-Neukoelln/!5707258/
Am 26.08.2020 meldet die Tagesschau, dass es auch in Hamburg illegale Datenabfragen gab. Betroffen ist die taz Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah.
https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/nsu20-drohmails-105.html
Am 06.09.2020 werden 4 weitere Polizist:innen aus Hamburg und Berlin verdächtigt. Sie haben illegal Daten zu den Opfern des NSU 2.0 Skandals abgefragt.
https://www.sueddeutsche.de/politik/nsu-2-0-vier-polizisten-verdaechtig-1.5022521
Eine Recherche zum Antifeminismus der Drohschreiben.
https://www.dokmz.com/2020/07/14/nsu-2-0-frauenfeindliche-motive-in-rechtsradikaler-und-rassistischer-drohserie-treten-immer-starker-hervor-schauhin-terror/
Im November 2020 setzt die Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız eine Belohnung für Hinweise zu NSU 2.0 aus. Sie beklagt den offensichtlichen Unwillen, mit den Ermittlungen voranzukommen.
https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-nsu-2-0-seda-basay-yildiz-1.5122351!amp?__twitter_impression=true
03.12.2020 Janine Wissler, Idil Baydar und Seda Başay-Yıldız erheben schwere Vorwürfe gegen die Polizei Frankfurt. Sie sprechen von Versagen bei der Aufklärung des NSU 2.0.
03.02.2021 Die Walter-Lübcke-Schule in Wolfhagen hat nach dem Urteil gegen den Lübcke-Mörder ein Drohschreiben bekommen – im Namen des “NSU 2.0”
03.05.2021 Berlin – Der Verfasser der Drohmails mit dem Kürzel NSU 2.0 soll festgenommern worden sein. Es handelt sich um den bekannten Rechtsradikalen Alexander M. Er ist kein Polizist. Dennoch bleibt fraglich, wie er an die Informationen über seine Opfer herangekommen ist. Die Ermittler:innen behaupten, dass er durch fingierte Anrufe bei der Polizei die Daten abfragen konnte. Das ist aber sehr fraglich, weil eigentlich nicht möglich. Seda Başay-Yıldız, Idil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah verfassen eine Erklärung, in der sie sagen: “Es gibt keinen Grund für Entwarnung.”
26.7.2021 Die gesperrte Anschrift von Başay-Yıldız wurde allen Fraktionen im Landtag zugeleitet. So auch an die AfD. Verantwortlich ist die Landesregierung.
28.10.2021 Die Frankfurter Staatsanwaltschaft klagt Alexander M. an. Er soll der Verantwortliche für die Drohbriefserie NSU 2.0 sein. Die Adressen seiner Opfer soll er durch Telefonanrufe bei Polizeidienststellen erhalten haben. An dieser und der Einzeltäterthese muss gezweifelt werden.
https://www.fr.de/politik/aggressiv-vulgaer-rassistisch-91229616.html
Am 16.02.2022 beginnt der Prozess gegen Alexander Horst M. Weitere Angeklagte gibt es nicht. Auch keine Polizisten, obwohl insbesondere Beamte des 1. Polizeireviers in Frankfurt, die eine rechte Chatgruppe betrieben, zu den Verdächtigen gezählt werden müssen. Gegen zwei Polizisten (ev. auch gegen Johannes S.) wird auch noch ermittelt. Allein die Anzahl und Komplexität der Anfragen zu den betroffenen Rechtsaanwältinnen, Politikerinnen und Journalistinnen widespricht der Einzeltäterthese. In einer Erklärung forden sie umfassende Aufklärung und weitere Ermittlungen.
https://taz.de/Vor-Prozessstart-zu-NSU-20-Drohserie/!5834911/
16.03.2022 Die Nebenkage im NSU 2.0 Prozess vermutet einen Polizisten hinter dem ersten Drohschreiben. Es sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass es sich um den Polizisten des 1. Frankfurter Polizeireviers Johannes S. handeln könnte.
https://taz.de/Rechtsextreme-NSU-20-Drohserie/!5842348/
Frühjahr 2022 Weitere Drohbriefe mit dem Kürzel NSU 2.0 werden verschickt. Auch an eine Moschee in Dortmund.
https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/moscheegemeinde-nach-nsu-drohbrief-in-angst-100.html
05.05.2022 Beim NSU 2.0 Prozess stellen die Nebenkläger fest, dass der Computer von dem die Daten zu den Drohbriefen abgefragt wurde, nach einer Durchsuchung am 11. September 2018 als defekt gemeldet wurde. Der zeitliche Zusammenhang von Durchsuchung und angeblichem Defekt legt die Vermutung nahe, dass hier Beweise vernichtet wurden.
https://www.fr.de/frankfurt/nsu-drohungen-wurde-polizei-pc-manipuliert-91524290.html
12.05.2022 Ein Zeuge sagt im NSU 2.0 Prozess aus, dass die Polizisten des 1. Reviers ihre Einsatzzeiten manipuliert hätten. damit ist nicht mehr nachvollziehbar, wer die Daten am Computer abgefragt hat. Wollten sie sich damit ein Alibi verschaffen?
13.05.2022 Beim NSU 2.0 Prozess verdichten sich wieder die Indizien, dass der Polizist Johannes S. doch in die Drohbriefserie invoviert sind. Dafür sprechen z.B. eine Karrikatur, die ihn als SS Obersturmbahnführer darstellt. Mit SS Obersturbannführer waren viel NSU 2.0 Drohschreiben unterzeichnet worden.
17.11.2022 Das Landgericht Frankfurt hat Alexander M. zu 5 Jahren und 10 Monaten Gefängnis verurteilt. Er ist der Verfasser der zahllosen Drohschreiben die mit “NSU 2.0” unterzeichnet waren. Die Nebenklage wirft dem Gericht vor, dass es den mutmaßlichen Verfasser der 1. Drohmail, den Polizisten Johannes S. nicht belangt hat. Alexander M. legt Berufung ein.