2011 – 2022 / Berlin / Neukölln Komplex
Wer sich gegen Rechts engagiert, wird terrorisiert, bis er aufgibt. So lässt sich die Strategie der Neonazis zusammenfassen, die seit vielen Jahren den Berliner Bezirk Neukölln mit einer Serie von Anschlägen und Angriffen überziehen. Die Betroffenen dieser Anschlagserie tun alles, um diese Strategie nicht aufgehen zu lassen: Sie schließen sich zusammen, organisieren Aufmerksamkeit und kämpfen darum, dass die Bedrohung ernst genommen und endlich gehandelt wird. Doch von staatlicher Seite aus fühlen sie sich immer wieder im Stich gelassen. Und nicht nur das: Weil die Aufklärung der Taten seit Jahren nicht von der Stelle kommt und von einer wachsenden Zahl von Ungereimtheiten geprägt ist, wächst der Eindruck, dass die staatlichen Behörden nicht nur nicht willens oder fähig sind, die Terrorserie zu beenden, sondern dass sie selbst in diese verstrickt sind.
Dass Neonazis insbesondere im Süden des Bezirks Neukölln aktiv sind, ist kein neues Phänomen. Personelle und strukturelle Kontinuitäten der lokalen rechten Szene lassen sich bis in die 90er Jahre zurückverfolgen. Ab 2011 wurde die Gegend schon einmal von einer Serie von Anschlägen erschüttert, die sich gegen verschiedene dort ansässige Institutionen (etwa den sozialistischen Jugendverband Die Falken) und Einzelpersonen richteten. Polizeiliche Aufklärung: Fehlanzeige. Jahrelang mussten die Betroffenen dafür kämpfen, dass die Anschläge überhaupt als das eingeordnet werden, was sie sind: Rechter Terror.
Die aktuelle Anschlagserie läuft seit 2016. Es geht um mindestens 72 Taten, davon mehr als 20 Brandstiftungen. Etwa der Brandanschlag auf die Familie von Ferat Koçak im Februar 2018 , bei dem nur durch Glück niemand verletzt wurde. Die Anschläge treffen Menschen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise gegen Rechts engagieren. Viele von ihnen haben eine gemeinsame Forderung: Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Berlin soll endlich Licht in den Neukölln-Komplex bringen.
Denn in Bezug auf die Aufklärung der Taten gibt es mehr Fragen als Antworten. Die Liste der Skandale seitens der Ermittlungsbehörden ist lang, die Täter seit Jahren nicht gefasst. Warum warnten die Behörden Ferat Koçak nicht, obwohl sie wussten, dass er von zwei Neonazis ausspioniert wird? Warum wurde der Brandanschlag auf seine Familie nicht verhindert? Was hat es auf sich mit dem beobachteten Treffen zwischen einem LKA-Beamten und einem der Haupt-Tatverdächtigen in einer Neuköllner Kneipe, dessen Existenz von der Polizei auf wenig überzeugende Weise dementiert wurde? Woher haben die Täter die Namen und Adressen der Opfer, die Namen und Adressen auf ihren Feindeslisten? Wie kann es sein, dass ein Berliner Polizist „Sicherheitsbeauftragter“ der lokalen AfD war, zu der auch einer der Haupt-Tatverdächtigen der Anschlagserie gehört? Was hat der Polizist getan, der 2016 für die Aufklärung der Taten zuständig war und heute wegen eines rassistischen Angriffs selbst vor Gericht steht? Behinderte ein rechter Oberstaatsanwalt jahrelang die Aufklärung der Serie? Wer schützt die Opfer? Wer die Täter?
Eins ist klar: So lange der Neukölln-Komplex nicht aufgeklärt ist, wird sich keins der bisherigen und potenziellen zukünftigen Opfer wieder sicher fühlen können.
2011-2013: Erste Anschlagserie in Neukölln
Seit 2016: Zweite Anschlagserie in Neukölln
Februar 2018: Brandanschläge auf Ferat Koçak und Heinz Ostermann. Später wird aufgedeckt, dass die Behörden weit vor den Anschlägen wussten, dass Koçak von den Hauptverdächtigen Tilo Paulenz und Sebastian Thom ausspioniert wird.
https://taz.de/Rechte-Anschlaege-in-Berlin-Neukoelln/!5564024/
Februar 2018: Bei einer Hausdurchsuchung bei Sebastian Thom wird eine Festplatte mit einer Feindesliste mit über 500 Personen entdeckt. Jahrelang behauptete die Polizei, diese Liste wäre verschlüsselt gewesen und sie könnte deshalb die Betroffenen nicht warnen. Die Verschlüsselung gab es nicht. Bis heute sind nicht alle Menschen, die auf dieser Liste standen, gewarnt worden.
März 2018: Der Berliner LKA-Beamte Pit Weber wird von Polizisten dabei beobachtet, wie er sich mit dem Hauptverdächtigen und bekannten Berliner Neonazi Sebastian Thom in einer Neuköllner Kneipe trifft. Später behauptet die Polizei, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt.
https://recherche030.info/2020/weber/
Januar 2020: In Berlin beginnt der Prozess gegen den Polizisten Stefan Kollmann, weil dieser einen afghanischen Flüchtling rassistisch beleidigt und verprügelt hat. Recherchen ergeben wenige Monate später, dass Kollmann 2016 zu einer speziell zur Aufklärung der Neuköllner Anschläge eingesetzten Ermittlungsgruppe gehörte. Er ist im Januar 2021 weiterhin im Dienst und in Treptow eingesetzt.
https://recherche030.info/2020/eg-rex/
Juni 2018: Es wird bekannt, dass gegen den Berliner Polizisten Detlef Moritz wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen ermittelt wird, weil dieser Polizei-Interna zum Breitscheidplatz in einem AfD-Chat weitergegeben hatte. Recherchen ergeben, dass Detlef Moritz eine Zeitlang „Sicherheitsbeauftragter“ der Neuköllner AfD war und auch mit Tilo Paulenz im engen Austausch stand. Er war auchn Teilnehmer einer rassistischen Chatgruppe “Die Eierköppe”. Die Ermittler stießen darauf, als sie die Handydaten von Thilo Paulenz auswerteten und später auch das Handy von Moritz. Genaueres zu Detlef Moritz findet ihr hier: https://entnazifizierungjetzt.de/19-12-2016-berlin-polizei/
https://taz.de/Ermittlungen-gegen-Berliner-Beamten/!5690788/
August 2020: Der Oberstaatsanwalt Matthias Fenner, der bislang die Ermittlungen zum Neukölln-Komplex leitete, wird wegen eines Befangenheitsverdachts von diesen abgezogen. Hintergrund sind protokollierte Aussagen des Hauptverdächtigen Tilo Paulenz: Man müsse sich wegen der Staatsanwaltschaft keine Sorgen machen, der Staatsanwalt habe ihm gegenüber angedeutet, er sei politisch „auf unserer Seite“.
August 2020: Die Berliner Datenschutzbeauftragte kritisiert öffentlich, dass die Berliner Polizei die Aufklärung eines Datenmissbrauchs verweigere. Es geht um einen Fall aus dem Frühjahr 2019: Damals wurden in mehreren Fällen Morddrohungen an die Wohnadressen verschiedener Menschen geschmiert, ein Zusammenhang zum Neukölln-Komplex liegt nahe. Zu zwei dieser Adressen, so die Datenschutzbeauftragte, habe es vorher Abfragen in polizeilichen Datenbanken gegeben.
30.08.2020 Die geladenen Polizist:innen dürfen im Prozess gegen Sebastian Thom und Tilo Paulenz nicht aussagen. Die beiden Naziterroristen dürfen wieder nach Hause fahren.
Nach 5 Jahren Ermittlung werden Sebastian Thom und Thilo Paulenz am 23.12.2020 festgenommen (sind aber im Januar 2021 schon wieder frei). Die Festnahme kommt aber nur zustande, weil der bisherigen Staatsanwaltschaft wegen Befangenheit die Fälle entzogen wurden und die Berliner Generalstaatsanwaltschaft übernommen hatte.
https://www.rav.de/publikationen/rav-infobriefe/infobrief-120-2020/der-neukoelln-komplex/
Im Januar 2021 recherchiert der Tagesspiegel, dass Tilo Paulenz Obmann des nationalistischen “Flügels” in der AfD war.
21.02.2021: Die interne Sonderkommission zu den Ermittlungen in Neukölln kann keine gravierenden Fehlleistungen der Polizei feststellen. Sie spricht von einem Kommunikationsproblem mit den Betroffenen und gibt der Presse Schuld an Vorverurteilungen. Die Betroffenen sind über diesen Bericht empört.
https://twitter.com/der_neukoellner/status/1364500906138628096
21.03.2021 – In einer Mail an das LKA behauptete der NSU 2.0, dass er für den Anschlag auf Ferat Koçak verantwortlich ist. Der Absender bezeichnet ihn als “Volksschädling” und nennt die Privatadresse der Familie von Koçak. Im März 2022 recherchiert der RBB, dass das LKA Koçak auch von dieser Mail informiert bzw. gewarnt hat.
05.11.2021: Thilo Paulenz kommt nach einem Angriff auf einen Taxifahrer in Untersuchungshaft. Und wieder “versagt” die Polizei: Der zuständige Polizeiabschnitt 42 will zunächst die Anzeige des Taxifahrers nicht aufnehmen.
21.02.2022: Paulenz wird nach einem Geständnis wegen gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung sowie eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens zu anderthalb Jahren auf Bewährung verurteilt. Außerdem muss er dem Taxifahrer, den er rassistisch beleidigt und geschlagen hatte, 1000 Euro zahlen. Thilo Paulenz kam mit dem Urteil nach dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft frei.