September 2020 – 2022 / Nordrhein-Westfalen / Polizei / Verfassungsschutz
Rechte Chatgruppen in NRW („Alphateam“ und „Kunta Kinte“) – ein riesiges Ausmaß und doch nur die Spitze des Eisberges
Die Skandale um die im September 2020 aufgedeckten rechten Chatgruppen in NRW sind in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die Skandale bezogen auf Nazis in den Sicherheitsbehörden der letzten Jahre.
Zunächst wird immer nur ein Einzelfall entdeckt, der sich dann zu einem umfassenden Skandal ausweitet.
Am 16.09.2020 teilt NRW-Innenminister Reul im Landtag mit, dass gegen 30 Polizist:innen auf Grund von rechter Propagandadelikte ermittelt wird. Diese Polizist:innen waren in insgesamt 5 Chats aktiv. Er verspricht umfassende Aufklärung.
Drei Monate später sind es inzwischen um die 200 Verdachtsfälle. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei noch immer nur um die Spitze des Eisberges handelt.
Bei den Täter:innen werden im Laufe der Ermittlungen noch andere Delikte festgestellt
Am 18.09.2020 werden bei der Freundin eines Verdächtigen illegale Waffen und Munition gefunden. Am 7.10.2020 wird gemeldet, dass ein wegen rechtsradikaler Chats beschuldigter Polizist einen verhafteten und gefesselten Mann mit Migrationshintergrund geschlagen haben soll. Er wird im Juni 2021 zu einer 9monatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.
18.10.2020: Einer der Polizisten, die Mitte September beschuldigt wurden, ist in einem Nazichat aktiv, Hooligan und Mitglied der Rockergruppe „Alte Garde“. Gegen zwei Dienstgruppenleiter wird wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt. Am 6.11.2020 teilt der Spiegel mit, dass das Lieblingslied der Nazipolizist:innen das „Horst Wessel Lied“, Kampflied der Sturmableitung, ist.
Der Skandal weitet sich auf andere Dienststellen und Sicherheitsbehörden aus.
Anfang November 2020 kommt raus, dass auch Mitarbeiter:innen des Verfassungsschutzes Chatteilnehmer:innen waren. Sie waren für die Beobachtung von Rechtsradikalen zuständig.
Inzwischen gehören Polizist:innen aus verschiedensten Dienststellen in NRW dazu: mindestens aus Mülheim, Bielefeld, Duisburg und Essen.
Trotz des erschreckenden Ausmaßes des Skandals beeilen sich Verantwortliche und Zuständige, den Skandal zu verharmlosen, zu relativieren und das Märchen vom Einzeltäter aufrechtzuerhalten.
24.09.2020, Innenminister Reul: „Die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten der Polizei in unserem Land steht auf der richtigen Seite.“
Die Deutsche Polizeigewerkschaft wiegelt ab: „Zudem ist die Polizei auch ein Spiegel der Gesellschaft; der absolute Großteil der Kolleginnen und Kollegen lebt und verkörpert diese Werte. Er betont, „dass bis zum Abschluss der Ermittlungen die Unschuldsvermutung gelte.“
30.11.2020: Der NRW Polizeiseelsorger zeigt Verständnis: „Der Beruf ist psychisch unglaublich anstrengend. Die Beamten suchen sich Ventile, um mit der eigenen Belastung umzugehen.“
Die Schlagzeilen in der Presse sind alarmierend, die Worte der Regierenden markig. Die Folgen für die rechten Täter minimal. Die disziplinarischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen dauern oft Jahre und sind dann längst aus den Schlagzeilen verschwunden.
Am 12.12.2020 werden 16 Suspendierungen wieder aufgehoben. Am 29.12.2020 geht eine Beamtin vor Gericht, um ihre Suspendierung aufheben zu lassen.
Noch immer ist die Reaktion in unserer Gesellschaft inadäquat:
Die Täter:innen sind sich keiner Schuld bewusst. Das Umfeld unterstützt oder akzeptiert stillschweigend. Vorgesetzte und Verantwortliche deckeln, beschwichtigen, verharmlosen und vertuschen. Staatsanwaltschaft und Gerichte zeigen Verständnis und strafen in der Regel nicht. Journalist:innen alarmieren, aber produzieren Tage später andere Schlagzeilen zu anderen Themen. Die kritische Öffentlichkeit vergisst schnell, hofft immer wieder neu, dass alles doch nicht so schlimm ist und gibt sich mit Verlautbarungen und Ankündigungen zufrieden.
Am 23.02.2021 wird bekannt, dass einem Bericht einer Sonderinspektion zu Folge die rechten Chatgruppen in Essen und Mülheim kein rechtsextremistisches Netzwerk waren. 6 Kommissaranwärter:innen wurden bis März 2021 entlassen.
26.03.2021 Das Oberverwaltungsgericht in Münster hebt die Suspendierung einer Polizeibeamtin auf. Sie hatte sich selbst bezichtigt Teil einer rechten WhatsApp Gruppe zu sein. Das Gericht stellt fest: „Während die Antragstellerin als Hinweisgeberin suspendiert worden sei und entlassen werden solle, habe das Polizeipräsidium gegenüber den anderen Kommissaranwärtern aus den Chatgruppen keine Maßnahmen ergriffen, insbesondere weder Suspendierungen noch Entlassungen ausgesprochen.“
Die strafrechtlichen und disziplinarrechtlichen Folgen sind lächerlich.
Im Dezember 2022 wird gemeldet, dass sich von 44 Beamt*innen schon wieder 21 im Dienst befinden. 20 Beamt*innen sind noch suspendiert. Ein Großteil der Ermittlungen wurde eingestellt, weil die Chatgruppen „Alphateam“ und „Kunta Kinte“ als geschlossene Gruppen galten. Damit trift der Vorwurf der Volksverhetzung nicht zu.
https://www.presseportal.de/pm/66749/4727975
https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-polizei-nrw-reul-1.5035246
https://taz.de/Rechtsextremismus-beim-Verfassungsschutz/!5718066/
https://www.aachener-nachrichten.de/nrw-region/kein-sammelbecken-bei-der-nrw-polizei_aid-54901191
https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/Rechte-chats-supendierung-polizistin-bestaetigt-100.html
https://taz.de/Polizeiaffaere-um-rechte-Chats-in-NRW/!5716439/
https://www.wz.de/nrw/amtsgericht-haftstrafe-auf-bewaehrung-fuer-polizeibeamten_aid-59658937