01.06.2019 – 2022 / Kassel / Der Mord an Walter Lübcke
In der Nacht des 1. Juni 2019 wird im hessischen Wolfhagen der Kasseler Regierungspräsident der CDU, Walter Lübcke, auf seiner Veranda erschossen. Am 15. Juni wird aufgrund von DNA-Spuren an Lübckes Hemd der vorbestrafte Neonazi Stephan Ernst festgenommen. Am 28. Januar 2021 wird dieser zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Trotz der oberflächlich schnellen und gradlinigen Verhandlung des Falles sind die Familie des Opfers und Beobachter:innen mit dem Verlauf des Prozesses und den Ermittlungen nicht zufrieden. Der Prozess geht in Revision. Die Kritik am Umgang der Sicherheitsbehörden mit dem Fall Lübcke lässt sich in 4 Punkten zusammenfassen:
1. Die Gefahr, die von Stephan Ernst ausging, wurde im Vorfeld nicht ernst genug genommen
Stephan Ernst ist den Behörden schon seit seiner Jugend als gefährlicher Neonazi bekannt. 1989 legt er ein Feuer im Keller eines von türkischen Staatsbürger:innen bewohnten Wohnhauses, 1992 rammt er einem Imam in einer öffentlichen Toilette ein Messer in den Rücken und verletzt ihn lebensgefährlich, 1993 versucht er mit einer Rohrbombe einen Angriff auf eine Asylbewerber:innenunterkunft, in der U-Haft schlägt er dann auf einen ausländischen Mitgefangenen mit einem Stuhlbein ein. 2003 begeht er einen gemeinschaftlichen Totschlag, in den nächsten Jahren mehrere Körperverletzungen, Beleidigungen usw. 2009 ist er außerdem mit 400 Neonazis an einem Überfall auf eine DGB-Demonstration beteiligt. Neben diesen bestätigten Fällen gibt es außerdem diverse Strafverfahren, die wegen mangelnder Beweise eingestellt werden müssen, darunter wegen Totschlags, Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung.
Demenstprechend bezeichnet ihn noch 2009 das hessische Landesamt für Verfassungsschutz als „brandgefährlich“. Kurz darauf gilt er plötzlich als „abgekühlt“, weil er weniger offene Kontakte zur rechten Szene pflegt und sich stattdessen auf Arbeit und Familie zu konzentrieren scheint. im Jahr 2012 kann sich Ernst erfolgreich eine Waffenbesitzkarte vor Gericht erstreiten, weil der hessische Verfassungsschutz seine Informationen nicht an das Ordnungsamt weiterleitet. 2015 wird seine Akte gesperrt. Expert:innen halten es für plausibel, dass er in dieser Zeit – den strategischen Leitlinien von rechtsradikalen Untergrundorganisationen folgend – „untertaucht“. Kontaktvermeidung und die Tarnung hinter einer bürgerlichen Fassade werden im „Field Manual“ von „Blood and Honour“ und der nach dem Verbot daraus hervorgehenden Gruppe „Combat 18“ vorgeschlagen, zu deren Mitgliedern Stephan Ernst nachweislich immer wieder Kontakt hat und mit denen er sich sogar an Aktionen beteiligt. 2011 lässt Ernst also mehrere Mitgliedschaften in rechten Vereinen und Organisationen auslaufen, bricht Kontakte scheinbar ab.
Die Behörden stellen es nach dem Mord an Lübcke so dar, als habe sich Ernst um diese Zeit herum erst deradikalisiert und sich dann überraschend und unvorhersehbar plötzlich wieder reradikalisiert. Gegen diese Auffassung sprechen neben Spenden für die AfD und die Identitäre Bewegung, Fotos von Ernst bei rechten Aufmärschen, Hasskommentare unter Pseudonym sowie Funde aus der Hausdurchsuchung nach dem Lübcke-Attentat 2019: Im Keller bewahrte Ernst nach wie vor Feindeslisten aus den Nullerjahren auf mit gesammelten Daten über rund 60 Personen. Unter anderem ging aus den Aufzeichnungen hervor, dass er die jüdische Gemeinde Kassel ausgespäht hatte. Daneben hatte er Pläne zum Bauen von Bomben und notierte, dass auch Beamt:innen, Stadtratsmitglieder oder „manchmal ein Bürgermeister“ als Anschlagsziele in Betracht kämen.
2. Die rechte Szene in Hessen, die das Lübcke-Attentat ermöglicht hat, wurde im Prozess und bei den Ermittlungen kaum beleuchtet
Ob und wie sehr Stephan Ernst im Auftrag einer Terror-Organisation gehandelt hat, bleibt unklar. Aber es ist auffällig, dass darüber nach dem Prozess nicht mehr bekannt ist als vor dem Prozess. Neue Erkenntnisse werden nur aufgrund von Presserecherchen bekannt. In den Befragungen wird wenig auf das rechtsradikale Umfeld von Ernst eingegangen und wenn, finden sich die Ermittler:innen mit nichtssagenden Aussagen ab. Als einziger Zeuge, der Informationen über die hessische Nazi-Szene liefern soll, wird der rechtsradikale Alexander S. vernommen, der sich an nichts erinnern kann und nichts wissen will. So kritisierte auch der VVN-BdA: Politische Hintergründe, faschistische Netzwerke in Nordhessen und darüber hinaus, „die Eingebundenheit des Täters“ von „AfD“ bis „Sturm 18“ seien „systematisch ausgeblendet“ worden.
3. Markus Hartmann, der das Attentat mitermöglichte, wurde dafür nicht verurteilt
Auch die Behandlung von Markus Hartmann reiht sich in dieses verschonende Verhalten ein: Nach dem Vorwurf der Anklage soll er Stephan Ernst mindestens durch Zureden, gemeinsame Schießtrainings und Hilfe bei der Beschaffung der Tatwaffe unterstützt und zur Tat ermutigt haben. Nach einer der verschiedenen, widersprüchlichen Aussagen von Ernst, soll Hartmann sogar mit am Tatort gewesen sein. Schließlich wird er bis auf Verstöße gegen das Waffenrecht, die wohl nicht mehr als eine Geldstrafe zur Folge haben werden, freigesprochen. Am 03.02.2021 kündigt die Familie von Walter Lübcke Revision gegen den Freispruch von Markus Hartman an.
Hartmann ist seit 1990 aktiver Neonazi, Mitglied in inzwischen verbotenen Organisationen (unter anderem in der „Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei“ und der „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“) und nimmt an teils gewalttätigen rechten Aktionen teil. Geleakte E-Mails zeigen, dass er schon 2005 versucht, Sprengstoff, Langwaffen und Munition zu kaufen. Nach Angaben seiner Exfreundin rüstet er sich für einen Bürgerkrieg und zieht ein Selbstmordattentat gegen „Ausländer“ in Betracht. 2006 wird er, weil er auffällig oft eine Website des BKA zum NSU-Mord an Halit Yozgat besucht, schon bei den NSU-Ermittlungen als Zeuge verhört. Die Ermittler:innen nehmen ein Alibi und eine fadenscheinige Erklärung Hartmanns an, ohne in den Unterlagen auch nur im Ansatz auf seine Gesinnung hinzuweisen.
Hartmann darf, nachdem er vor dem Verwaltungsgericht Kassel Recht bekommt, trotz seiner offen bekannten Gesinnung sogar legal Waffen besitzen. Eine davon soll er Ernst zum Üben geliehen haben. Den Waffenschein bekommt Hartmann nur, weil der Landesverfassungsschutz Informationen über Hartmanns Aktivitäten teilweise nicht ans Gericht weitergegeben hatte. Die Vorwürfe seiner Exfreundin, die bei einem Sorgerechtsstreit vor dem Familiengericht aussagt – mindestens Verstöße gegen das Waffengesetz – führen zu keinen Ermittlungen gegen Hartmann.
Bei einer Hausdurchsuchung nach dem Lübcke-Attentat findet man jedoch neben 37 Schusswaffen ein Buch des rechten Hetzers Akif Pirinçci, in dem der Name von Lübcke gelb markiert worden ist. Bei einer Durchsuchung seines Handys findet sich außerdem das Foto eines als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuften Dokumentes der hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Wie er an dieses Dokument kam, ist unbekannt. 250 Chatnachrichten zwischen Ernst und Hartmann wurden vor der Sicherstellung unwiederbringlich gelöscht. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass es sich um „tatbezogene Kommunikation“ handelte.
Hartmann ist es auch, der 2015 auf einer Bürgerversammlung, zu der er gemeinsam mit Stephan Ernst fuhr, den Clip aufnahm und online stellte, der Lübcke zu einer Zielscheibe der rechten Szene machte: Lübcke verteidigt darin die Errichtung einer Geflüchtetenunterkunft in der Nähe. Als er von fremdenfeindlichen Zwischenrufen gestört wird, entgegnet er, dass man, wenn man gewisse grundlegende Werte nicht vertrete, „jederzeit dieses Land verlassen“ könne. Das Video hat nicht nur einen rechten Shitstorm und Todesdrohungen zur Folge, sondern ist nach Angaben von Ernst auch der Ausgangspunkt seines Entschlusses, Lübcke zu töten.
Schließlich sagt der älteste Sohn von Walter Lübcke aus, dass er zwei Menschen ein Jahr vor der Tat gesehen habe, deren Beschreibungen auf Hartmann und Ernst passen. Die Aussage deckt sich mit der Beschreibung einer gemeinsamen Ausspähung von Ernst. Aussagen von Ernst decken sich also mit denen mehrerer Zeug:innen vor Gericht: Hartmann hat ihn mindestens weiter radikalisiert, ihm eine Waffe besorgt, mit ihm das Schießen trainiert. Dass sie über das Ziel Lübcke gesprochen haben, ist schwer nachweisbar, aber die Indizien sind stark. Trotzdem wird Hartmann noch nicht einmal wegen psychischer Beihilfe verurteilt, dabei hatte die Nebenklage sogar die schwerere Verurteilung wegen Mittäterschaft gefordert.
4. Stephan Ernst wurde nur für das Lübcke-Attentat verurteilt, trotz starker Indizien im zweiten großen Anklagepunkt des Prozesses: der Messerattacke auf Ahmed I. Eine dritte wahrscheinlich von Ernst begangene Tat wurde gar nicht vor Gericht gebracht.
Das Verfahren gegen Stephan Ernst hatte nicht nur den Lübcke-Mord zum Gegenstand, sondern noch ein zweites schweres Verbrechen: Den Angriff auf den Geflüchteten Ahmed I. Dieser war 2016 beim Zigaretten holen von einem vorbeifahrenden Fahrradfahrer plötzlich mit einem Messer attackiert und schwer verletzt worden.
Die Polizei vermutet zuerst einen Überfall oder eine Verwicklung des Opfers in Drogenkriminalität. Ein typisches, selbst rassistisch motiviertes Ermittlungsmuster bei rassistischen Attentaten. Ahmed I. berichtet, er habe schon bei der ersten Aussage im Krankenhaus einen Nazi als Täter vermutet. Die Polizei habe ihn aber nicht ernst genommen, sondern stattdessen Angst gemacht. Daraufhin seien die Ermittler:innen nicht wieder auf ihn zugekommen. Erst nach Ernsts Festnahme, mit Hilfe einer unabhängigen Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt, die Ahmed I. Glauben schenkt, meldet er sich erneut bei den Behörden.
Trotz I.s Aussage vermuten die Ermittler:innen also zuerst einen Täter aus seiner Asylbewerberunterkunft und verhaften einen Mitbewohner von Ahmed I. Als diese Spur zu nichts führt, werden auch rechte Straftäter der Gegend verhört, die schon durch Messerangriffe aufgefallen waren, darunter Stephan Ernst. Obwohl dieser nur 2,5 km vom Tatort entfernt wohnt, ein passendes Fahrrad besitzt, zugibt, die Asylunterkunft zu kennen, an dem Abend frei hatte und kein Alibi geben kann, wird seine Wohnung nicht untersucht. Bei einem Verhör nach dem Lübcke-Mord 2019 gibt Ernst an, dass er am Tag des Angriffs wegen der Ereignisse der Kölner Silvesternacht wütend durch den Ort gelaufen sei und einem „Ausländer“ auf der Straße eine Todesdrohung zugeschrien hätte. Er habe aber niemanden gewaltsam angegriffen. Bei der Hausdurchsuchung findet man daraufhin ein passendes Messer mit unvollständigen DNA-Spuren, die stark auf Ahmed I. hinweisen. Später kann Ernst plötzlich eine Rechnung für den Kauf eines baugleichen Messers nach dem Tatdatum vorweisen. Das Gericht weist Ahmed I.s Klage wegen mangelnder Beweise zurück.
Eine weiterer möglicherweise von Ernst begangener Anschlag schafft es erst gar nicht in die Verhandlung. Am 20. Februar 2003 wird auf einen Kasseler Geschichtslehrer und antifaschistischen Aktivisten in dessen Küche geschossen. Die Kugel verfehlt seinen Kopf nur knapp. Die Täterschaft bleibt ungeklärt. Bei der Hausdurchsuchung 2019 findet man auf Ernsts Laptop einen verschlüsselten Ordner mit Daten, die Ernst über den Lehrer gesammelt hatte. Die Ermittlungen sind bis jetzt ansonsten „ergebnislos“.
Die Ermittlungen im Lübcke-Komplex sind zum einen exemplarisch dafür, dass die deutschen Sicherheitsbehörden im Umgang mit rechten Täter:innen und Netzwerken versagen (wollen). Zum anderen wird deutlich erkennbar, wie tief institutionalisierter Rassismus in den Behörden verankert ist. Das riesige Gewaltpotenzial, das von der rechten Szene ausgeht, kann für niemanden eine Überraschung sein, der sich länger mit ihr beschäftigt. Alle Angeklagten und deren Unterstützer:innen im Mordfall Lücke waren den Behörden seit Jahrzehnten bekannt und trotzdem entschieden sich die Behörden – allen voran der Verfassungsschutz – bewusst dafür, wegzuschauen. Darüber hinaus werden Betroffene rechter Gewalt nicht ernst genommen. Dass der Verfassungsschutz Hartmann und Ernst 2019 nicht mehr als aktive Gefahr einstufte, ist ein Skandal, der neben vielen Verletzten den Tod eines Menschen zu verantworten hat.
Am 25. Juni 2020 beschloss der hessische Landtag einen Untersuchungsausschuss einzurichten, der sich mit der Rolle der Behörden auseinandersetzen soll. Das Agieren der Regierungskoalition (CDU und Grüne) und der Behördenvertreter:innen dort, zeigt den Unwillen zur Aufklärung. NSU Watch Hessen beobachtet den Untersuchungsausschuss: https://hessen.nsu-watch.info/category/luebcke-untersuchungsausschuss/
26.01.2022 Das Landgericht Paderborn hat den Waffenhändler Elmar J. vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Er soll nach Aussagen des Mörders von Walter Lübcke die Mordwaffe an ihn verkauft haben. Vor dem Landgericht verweigerte der Mörder Stephan Ernst jedoch die Aussage, weil sein eigenes Revisionsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Eine Verlegung des Prozesses gegen den Waffenhändler, um eine Aussage zu erhalten, lehnte das Gericht aber ab. Der Freispruch war also voraussehbar.
01.07.2022 Im Walter Lübcke Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages sagt eine Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes aus, dass sie die Akte des späteren Mörders gesichtet und sich gegen die Löschung ausgesprochen hätte. Dennoch wurde die Akte vernichtet und der Mörder nicht weiter beobachtet.
25.08.2022 Der Bundesgerichtshof bestätigt die Urteile im Mordfall Walter Lübcke. Damit bleibt der Freispruch für den Mittäter Markus Hartmann bestehen und der Mordversuch an Ahmed I. ungesühnt. Die Nebenkläger und die Familie von Walter Lübcke hatten Revision eingelegt, weil es starke Hinweise darauf gab, dass Markus Hartmann am Mord beteiligt war und Stephan Ernst den Geflüchteten Ahmed I. mit einem Messer angegriffen hat.
04.10.2022 Der noch amtierende hessische VS-Präsident Schäfer soll nun hessischer Polizeipräsident werden. Schäfer ist dafür verantwortlich, dass der Mörder von Walter Lübcke jahrelang als ungefährlich eingeschätzt wurde.
18.07.2023 Der hessische Untersuchungsausschuss zum Mord an Walter Lübcke hat in einem über 600-seitigen Bericht die Arbeit des Verfassungsschutzes kritisiert. Die Oppositionsparteien SPD, FDP und Linke schließen sich in Teilen der Kritik an. Die Linke spricht davon, dass der VS als „Frühwarnsystem“ nicht funktioniert habe.
Quellen:
https://www.hessenschau.de/panorama/prozess-blog-mordfall-luebcke-104.html
https://www.zeit.de/2019/27/walter-luebcke-attentat-neonazi-organisation-rechtsextremismus
https://exif-recherche.org/?p=6417
https://www.sueddeutsche.de/politik/luebcke-mord-rechstextremismus-markus-h-stephan-e-1.4570617
https://www.tagesschau.de/investigativ/panorama/luebcke-verfassungsschutz-markus-h-101.html
https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/mordfall-luebcke-und-nsu-immer-wieder-temme-16440141.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Mordfall_Walter_Lübcke
https://www.jungewelt.de/artikel/395329.rechter-terror-nur-einer-hinter-gittern.html?sstr=lübcke
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1147758.luebcke-prozess-neonaziszene-bleibt-verschont.html
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1147332.luebcke-prozess-von-wegen-abgekuehlt.html
https://verband-brg.de/gerechtigkeit-und-aufklaerung-nach-dem-rassistischen-mordversuch-an-ahmed-i/
https://twitter.com/hanvoi/status/1356921243702820864
https://twitter.com/LinkeLTGHessen/status/1542907626324910080
https://entnazifizierungjetzt.de/20-07-2022-wiesbaden-verfassungsschutz/