09.02.2014 – 2021 / Ballstädt / Polizei / Justiz
„Die Brennpunkte des Justizversagens sind: eine verschleppte Verfahrensdauer, eine falsche Toleranz gegenüber Angeklagten im Gerichtssaal, eine schlampige Urteilsbegründung, eine Entpolitisierung rechter Gewalt bei der Strafzumessung und ein unzureichender Opferschutz.“ schreibt Joachim Wagner in seinem Buch „Rechte Richter“ Berlin 2021 S. 91
15 Rechtsextremist:innen überfallen im Februar 2014 äußerst brutal eine Kirmesgesellschaft in Ballstädt und verletzen mehrere Menschen zum Teil schwer. Der Prozess gegen die lokal bekannten Nazis kommt nur schleppend voran, da Kapazitäten fehlen, die Behörden nicht zur nötigen Kooperation bereit sind und wichtige Schriftstücke erst viel zu spät angefertigt werden.
2017 werden dann nach langwierigem Prozess 9 Haftstrafen und eine Bewährungsstrafe gegen die beteiligten Täter:innen ausgesprochen. Für das Gericht ist der Überfall der Nazis ein Akt der Selbstjustiz, der aber keinerlei politische Motive haben soll. Gegen das Urteil wird von der Verteidigung Revision eingelegt.
Weitere drei Jahre vergehen bis der Bundesgerichtshof in Karlsruhe im Mai 2020 der Revision der Verteidigung endgültig aufgrund von Formfehlern stattgibt, womit das Großverfahren neu aufgerollt werden muss.
Das in diesem Fall zuständige Landgericht Thüringen gibt daraufhin im Juli 2020 bekannt, dass das Verfahren auf einen unbestimmten Termin im Jahr 2021 verschoben wird.
Für die Opfer ist diese Situation der Verschleppung psychisch enorm belastend. Die rechtsradikalen Täter:innen sind derweil weiter auf freiem Fuß, haben in der Zwischenzeit weitestgehend unbehelligt die lokale Naziszene weiter auf- und ausgebaut, weil nach all den Jahren keine juristischen Konsequenzen für sie eingetreten sind.
Im Januar 2021 wird bekannt, dass das Gericht versucht, mit Hilfe von Absprachen das Verfahren zu verkürzen und zum Abschluss zu bringen. Es besteht die Gefahr, dass Zeugenaussagen verzichtbar gemacht werden und geringe Strafen zu erwarten sind. Die Opfer sagen: „Dass man in Deutschland über so ein hohes Strafmaß, so eine Riesenverhandlung Deals führen kann, ist einfach enttäuschend.“
Im Mai 2021, kurz vor Beginn des erneuten Prozesses übergeben die „Omas gegen Rechts“ eine Petition, die sich gegen diese Deals richtet, an den thüringischen Justizminister. Zu Beginn des Prozesses ist klar: Fast alle Nazis werden die Deals annehmen. Sie geben zu, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein. Ansonsten könnten sie sich nicht mehr erinnern. Die Belohnung: Die Haftstrafen werden zur Bewährung ausgesetzt. Bei der Urteilsverkündung im Juli 2021 beklagt die Richterin Rathemacher das große öffentliche Interesse und bezeichnet dieses als Einmischung in ihre Arbeit. Sie verneint das politische Motiv der Täter. Die Nebenkläger verzichten auf ein Abschlussplädoyer und bezeichnen den Prozess als Farce und die Bewährungsstrafen als abgekartetes Spiel. Auch der SPD-Abgeordnete Denny Möller spricht von einem „verheerenden Signal“ durch das Urteil.
Im März 2022 entscheidet der Bundesgerrichtshof, dass das Urteil rechtskräftig ist.
Joachim Wagner schreibt: „Die Beteiligten sind ihrer besonderen Verantwortung gegen rechte Gewalt nicht gerecht geworden – vom Kriminalkommissar bis zum Bundesrichter.“ ebenda S. 96
28.06.2022 9 Jahre nach dem Naziüberfall auf eine Kirmesgesellschaft hat das Bundesamt für Justiz die Tat nun als rechtsextrem eingestuft. Noch vor einem Jahr kamen die Täter mit Bewährungsstrafen davon, weil unter anderem ihre rechtsradikale Motivation nicht berücksichtigt wurde.
https://www.mdr.de/thueringen/mitte-west-thueringen/schlaegerei_kirmes_ballstaedt100.html
https://www.mdr.de/thueringen/west-thueringen/gotha/ballstaedt-neonazi-prozess-ueberfall-100.html
https://mobit.org/presseerklaerung/justiz-skandal-im-ballstaedt-verfahren/
https://taz.de/Milde-Strafen-fuer-Ueberfall-in-Ballstaedt/!5784921/
Joachim Walter: „Rechte Richter“ Berlin 2021. S. 90ff