Den NSU-Komplex auflösen
Eine Analyse der Strukturen und Logiken, die den Terror möglich machten
Widmung
Dieser Text ist jenen gewidmet, die durch den NSU ermordet, verletzt und traumatisiert wurden und die bis heute unter den Folgen der Taten, der Ermittlungen und der anhaltenden Vertuschung der Wahrheit leiden. Stellvertretend seien hier die Ermordeten genannt, deren Namen wir niemals vergessen werden.
Enver Şimşek
Abdurrahim Özüdoğru
Süleyman Taşköprü
Habil Kılıç
Mehmet Turgut
İsmail Yaşar
Theodoros Boulgarides
Mehmet Kubaşık
Halit Yozgat
Michèle Kiesewetter
Vorwort
Der NSU-Komplex ist ein umfangreiches Thema, zu dem an anderer Stelle bereits viele richtige Dinge geschrieben wurden. Es ist nicht an uns, all die unzähligen Skandale oder furchtbaren Details wiederzugeben. Wir empfehlen am Ende des Textes daher eine Reihe von Büchern und Internetseiten für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema.
Wir wollen uns an dieser Stelle darauf beschränken, jene Strukturen zu benennen und kurz zu erläutern, die den NSU-Komplex durchziehen. Strukturen die sowohl die Taten des NSU als auch die anschließende Sabotage der Aufarbeitung ermöglicht und bis heute verhindert haben, dass der Großteil des Netzwerks des NSU zur Verantwortung gezogen wurde. Diese existieren leider in vielen Bereichen immer noch genau so wie beschrieben und wirken bis heute fort. Dabei besteht die Aufgabe darin, im Meer aus Informationen und Wissen nicht zu versinken, sondern den NSU-Komplex zu entschlüsseln. Es geht darum, Lehren zu ziehen, die uns bei der Analyse ähnlicher Phänomene helfen und uns zeigen, an welchen Stellen eine Aufklärung aber auch Bekämpfung der Strukturen ansetzen muss, die den NSU-Komplex und eine Vielzahl weiterer Taten ermöglicht haben.
Dieser Text analysiert einführend die einzelnen Teilbereiche und die darin vorhandenen Strukturen, die den NSU-Komplex möglich gemacht haben. Zunächst wird auf die Naziszene, das V-Leute-System, die Inlandsgeheimdienste und die rassistischen Ermittlungen der Polizei eingegangen. Anschließend geht es um den NSU-Prozess und die darin sichtbar gewordenen juristischen Logiken, die politisch gewollte Vertuschung sowie den gesellschaftlichen Rassismus. Mit der unzureichenden Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch die Behörden sind aber auch Verbindungen und Bündnisse zwischen all jenen entstanden, die den Kampf um Aufklärung, Erinnerung und Gerechtigkeit bis heute weiterführen, auf die der Text abschließend eingeht.
Von der Naziszene in den Untergrund
Der NSU bestand aus mindestens einer Zelle von mehreren Personen – zu denen geringstenfalls die drei bekannten Täter:innen gehörten – und einem umfangreichen Netzwerk von Neonazis, das diese Zelle über Jahre hinweg logistisch, materiell, ideologisch und bei der direkten Tatbegehung unterstützte. In ihrem Bekennervideo sprechen die Täter:innen selbst davon, dass der NSU ein Netzwerk sei, das für die bisher bekannten und vielleicht noch weitere Taten verantwortlich ist. Wir wissen, dass es lokale Unterstützer:innen gab, die beispielsweise die Tatorte ausspionierten und somit daran beteiligt waren, Opfer auszuwählen. Die Zahl der Personen, die dem NSU angehörten oder ihn unterstützten, ist nicht abschließend geklärt worden. Schätzungen reichen von 130 bis 200 Personen, wobei es hier jene gab die wussten was die Kernzelle des NSU tat und andere die lediglich eine vage Vorstellung davon hatten wen und was sie unterstützten.
Sowohl die Zelle als auch das unterstützende Netzwerk des NSU hätte es ohne die bundesweite und international organisierte militante Neonaziszene nicht geben können. In dieser Szene und ihren Organisationen wurden die Täter:innen politisiert, radikalisiert und ausgebildet. Es waren die hasserfüllten neonazistischen, rassistischen, antisemitischen, sexistischen und völkischen Ideologien der Neonaziszene, die sie dazu brachten, Mörder:innen zu werden. Es waren die Organisationen der Szene, die ihnen die Gewalt auf der Straße, den Umgang mit Waffen und Sprengstoff, die Konzepte des Untergrunds und des Terrors beibrachten und sie darin bestärkten, aus Worten Taten werden zu lassen. Es waren die in der Szene und ihren Organisationen geknüpften Kontakte, aus denen die Zelle und das Netzwerk entstanden. Sie halfen dabei, Dokumente, Waffen, Sprengstoff, Geld, Wohnungen usw. zu besorgen, um den Terror aus dem Untergrund zu führen.
Obwohl offiziell schon seit 1998 abgetaucht, war die Zelle des NSU über Jahre hinweg weiterhin an die Strukturen der Neonaziszene angebunden. Ihre Unterstützer:innen waren aktive Funktionäre in Neonaziparteien, in aktionistischen Gruppen und in militanten Organisationen. So wurde bei Konzerten Geld für die Zelle gesammelt, eine Neonaziband schrieb lange vor der Selbstenttarnung ein Lied über ihre Taten, der NSU wandte sich mit Briefen und Spenden an Gruppen und Einzelpersonen, die Mitglieder der Zelle arbeiteten im Untergrund noch in Betrieben von bekannten Neonazis und schrieben Texte, die in einschlägigen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Eine Loslösung von der Szene oder ein abgeschottetes Leben im Untergrund hat es so nie gegeben. Der NSU war bis zuletzt Teil der Szene und wurde von dieser auch als solcher wahrgenommen.
Es ist festzustellen, dass das Netzwerk des NSU bisher so gut wie gar nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Obwohl bekannt ist, wer was beisteuerte, ist kaum jemand aus diesem Netzwerk bestraft worden und fast alle sind auf freiem Fuß. Auch wenn die Organisationen, die im und um den NSU eine wichtige Rolle gespielt haben, formal verboten sind, machen diese unter anderen Namen weiter wie bisher. Trotz des Verbots der Blood & Honour Division Deutschland gibt es immer noch große Konzerte und Events, auf denen enorme Geldbeträge erwirtschaftet werden, die in undurchsichtige Kanäle fließen. Obwohl der Thüringer Heimatschutz nicht mehr existiert und viele Kameradschaften verboten wurden, sammeln sich die Nazis in parteiähnlichen Strukturen wie Die Rechte oder Der Dritte Weg. Sie horten Waffen, bauen Bomben, lernen schießen und begehen Anschläge. Neben vielen neuen Nazis in der Szene gibt es immer noch jene, die schon seit der Zeit des Thüringer Heimatschutzes in den 90er Jahren und davor aktiv waren. Angeklagte aus dem Prozess in München, Helfer aus dem Netzwerk des NSU und den zahlreichen Gruppen der damaligen Zeit sind zum großen Teil noch heute aktiv und machen genau da weiter, wo der NSU aufgehört hat.
In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe Gruppen aufgeflogen, die dem NSU in seiner Aufbauphase ähnlich sind. Sie besorgen sich Waffen und Sprengstoff um jene zu töten die nicht in ihr Weltbild passen und planen die bestehende Gesellschaft an einem Tag X mit Gewalt zu stürzen. Wie viele bisher völlig unbehelligt von der Öffentlichkeit agieren, bleibt unklar. Die Konzepte, die der NSU propagierte, kursieren weiterhin in der Szene und die Mordanschläge der letzten Jahre zeigen uns, dass der Naziuntergrund weiter existiert und sich digital und real vernetzt, um Anschläge zu begehen. Auch wenn in den vergangenen Jahren viel über die radikalen Rechten in den Parlamenten geredet wird und diese mit ihrer Ideologie und Propaganda den Boden für Gewalt bereiten, sollten wir nicht vergessen, dass die Neonaziszene, die den NSU hervorgebracht hat, auch noch existiert und aktiv ist. Ihre Ideologie führt sie zwangsläufig dazu, Gewalt auszuüben und in letzter Konsequenz steht immer die Vernichtung von Menschen, die in ihren Augen minderwertig sind, auf ihrer Agenda. Auch wenn sich die Methoden, die sie nutzen, wandeln mögen, im Kern ist ihre Strategie des faschistischen Terrors und der völlig enthemmten Gewaltanwendung ein alt bekannter Kernbestandteil zur Durchsetzung ihrer Ideologien. Die Existenz einer faschistischen und im speziellen neonazistischen Szene wird immer zu einer mörderischen Gewalt führen, weshalb lediglich die konsequente Bekämpfung dieser Szene, ihrer Ideologien und Organisationen dazu beitragen kann, die Gewalt zu beenden.
Das V-Leute-System
Neben der unterstützenden Neonaziszene sind es die Geheimdienste, wie die so genannten Verfassungsschutzämter in Bund und Ländern und der Militärische Abschirmdienst der Bundeswehr, die den NSU ermöglicht haben. Es waren die Inlandsgeheimdienste in Bund und Ländern, die glaubten mit ihrem V-Leute-System die Neonaziszene unter Kontrolle halten zu können, wenn sie nur genügend Neonazis als Spitzel anwerben und in Führungspositionen bringen würden. Im Rahmen der Aufarbeitung des NSU-Komplexes wurde deutlich, dass das V-Leute-System die Neonaziszene vielmehr mit aufgebaut hat. Viele Neonazis – darunter etliche Führungsfiguren – wurden über Jahre vor der Strafverfolgung geschützt und konnten mit dem Geld und der Ausrüstung der Geheimdienste ihre Organisationen auf- und ausbauen, in vielen Fällen sogar auf dem neuesten Stand der Technik halten. Unzählige Aktionen und Strukturen der Neonaziszene, wie Demos, Konzerte, CD-Produktionen, Läden, Fanzines usw. konnten dank der schützenden Hand der Behörden gelingen.
Ein paar Beispiele: Der von V-Mann Tino Brandt geführte Thüringer Heimatschutz hatte es unter dem Schutz der Geheimdienste geschafft, aus vielen kleinen Neonazigruppen in Thüringen eine straffe politische Organisation zu formieren. Von den rund 140 Mitgliedern des Thüringer Heimatschutzes sollen bis zu 40 Neonazis gleichzeitig V-Personen der Inlandsgeheimdienste gewesen sein. Im Thüringer Heimatschutz agierten die Mitglieder der späteren Zelle des NSU, knüpften Kontakte, die halfen das Leben im Untergrund zu organisieren und begangen ihre ersten Straftaten und Anschläge. Es war auch jener V-Mann Brandt, welcher der NSU-Zelle nach ihrem Untertauchen Geld des Verfassungsschutzes für die Versorgung und den Kauf gefälschter Pässe zukommen ließ.
Die militante Neonazi-Organisation Blood & Honour Division Deutschland wiederum wurde von einem V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Stephan Lange, geführt. Kassenwart der Division Deutschland und Anführer der Sektion Thüringen war ebenfalls ein V-Mann des Landesamtes für Verfassungsschutz Thüringen namens Marcel Degner. Blood & Honour war damals – seine Nachfolgeorganisationen sind es bis heute – die maßgebliche Struktur, die den neonazistischen Terror weltweit ermöglichte und aktiv mitbestimmt. Über Musik wird die menschenverachtende Ideologie nicht nur verbreitet und zum Terror aufgerufen, über CDs, Konzerte und Fanartikel wird Geld eingenommen, das in den Aufbau von gewalttätigen und terroristischen Gruppen fließt, während die Konzerte gleichermaßen als internationale Vernetzungstreffen dienen. Die V-Leute der Landesämter und des Bundesamtes tummelten sich in diesen Gruppen: Der V-Mann Carsten Szczepanski verhalf dem NSU vermutlich zu einer Waffe und berichtete den Behörden davon, wer die drei im Untergrund unterstützte. Der V-Mann Thomas Starke assistierte beim Untertauchen und lieferte Sprengstoff für die ersten Bomben. Der V-Mann Kai Dalek baute das bundesweite Thule-Netzwerk auf, mit dem sich die Neonaziszene digital zu vernetzen begann, und war gleichzeitig Mentor des bereits erwähnten V-Mannes Tino Brandt. Beim V-Mann Ralf Marschner wiederum arbeiteten die Mitglieder der NSU-Zelle noch Jahre nach ihrem Abtauchen auf Baustellen und vermutlich auch in seinem Naziladen. Darüber hinaus half Marschner vermutlich auch bei der Anmietung von Fahrzeugen, die zur Begehung von Morden des NSU benutzt wurden.
Die Liste der Beispiele ließe sich lange fortsetzen; wir wissen von mindestens 32, anderen Quellen zufolge von 40, V-Leuten im Umfeld des NSU. Dabei bleibt festzuhalten, dass alle diese Personen für ihre Taten nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, da ihr Status als V-Person sie vor der Strafverfolgung schützt. Mit Hilfe der Inlandsgeheimdienste erhielten sie zum Teil sogar neue Identitäten und konnten sich neue Existenzen aufbauen.
Ein grundlegendes strukturelles Problem beim Einsatz von V-Leuten wird anhand der geschilderten Fälle deutlich. Einerseits wollen die Inlandsgeheimdienste über V-Leute möglichst viel Einblick in Strukturen und Erkenntnisse über Aktionen bzw. Straftaten gewinnen. Gleichzeitig wird in den Dienstvorschriften und besonders in der Öffentlichkeit das idealtypische Bild einer V-Person beschrieben, die zwar alles weiß, aber eigentlich nicht in die Vorgänge involviert ist. Da die bekannten Beispiele zeigen, dass die Vorstellung eines Neonazi-Spitzels mit weißer Weste eine Fiktion ist, versteht man auch, warum so viel Wert auf den Quellenschutz gelegt wird. Denn jene V-Leute die bekannt geworden sind, waren oftmals nicht nur Führungsfiguren der Szene die einen erheblichen Einfluss auf diese hatten, sie trugen in vielen Fällen sogar zur Radikalisierung und gelegentlich zur Bewaffnung der Szene bei. Wird dies öffentlich bekannt, erkennt man schnell wie wenig der formale Anspruch des V-Leute-Systems mit der realen Praxis übereinstimmt.
Das V-Leute-System ist so aufgebaut, dass eine V-Person die nicht viel spannendes zu berichten hat kaum viel Geld erhalten wird. Somit haben die Neonazis auf der Gehaltsliste des Staates einen materiellen Anreiz in der Szene aufzusteigen, Aktionen zu organisieren und Straftaten anzustiften. Das V-Leute-System birgt somit bereits in seiner Konstruktion die stetige Gefahr genau jene Szene zu stärken und zu radikalisieren, gegen das es eigentlich eingesetzt werden soll.
Im Kontext des NSU-Komplexes wissen wir, dass die Behörden schon kurz nach Verschwinden der NSU-Zelle unter anderem vermittels V-Mann Brandt und V-Mann Szczepanski wussten, dass die drei Gesuchten in Chemnitz von Mitgliedern der dortigen Szene versteckt und unterstützt wurden und dass sie vermutlich auch Raubüberfälle begingen. Dieses Wissen wurde aber nicht genutzt, um die drei zu verhaften. Mit dem Umzug der drei Gesuchten nach Zwickau mehrere Jahre später verschwanden sie dann – vermeintlich vom Radar der Behörden. Die Mordserie des NSU hätte verhindert werden können, wenn die Inlandsgeheimdienste ihre Erkenntnisse dazu genutzt hätten, die NSU-Zelle zu verhaften, doch genau das geschah nicht. Warum die Geheimdienste so handelten, ist schwer zu beantworten. Eine Erklärung deutet auf den Quellenschutz, der V-Personen einschließt. So kommt es zu einer Abwägung dessen, ob es mehr bringt, Straftaten zu verhindern oder diese laufen zu lassen, um die eigenen V-Leute vor einer Enttarnung zu schützen. Diese Abwägung wurde im Rahmen des NSU-Komplexes mehrmals und systematisch dahingehend entschieden, dass man lieber die drei Gründer:innen der ersten NSU-Zelle gewähren ließ, als nur eine V-Person auffliegen zu lassen. Die mörderischen Folgen dieser Abwägung haben mehr als deutlich gemacht, dass das System der V-Leute mehr Schaden als Nutzen bringt.
Eine weitere These ist, dass die Geheimdienste glaubten – allen voran der Thüringer Verfassungsschutz – die drei Gesuchten durch viele V-Personen derart unter Kontrolle zu halten, dass man sie gefahrlos beobachten könne, um Erkenntnisse zu gewinnen, etwa darüber, wie die Strukturen der Szene einen Untergrund aufbauen und organisieren. Das Gefühl einer allmächtigen Kontrolle über die Geschehnisse, das auf dem scheinbar umfangreichen Wissen und gnadenloser Selbstüberschätzung beruht, liegt zum Teil vermutlich in der Mentalität der agierenden Geheimdienstler:innen begründet.
Der Fokus auf das reine Sammeln von möglichst vielen Informationen auch zu Lasten einer Verhinderung von Straftaten kann hingegen als ein fester Bestandteil geheimdienstlicher Logik ausgemacht werden. Vor Gericht und vor Untersuchungsausschüssen äußerten mehrere Geheimdienstvertreter:innen die Ansicht, es sei nicht ihre Aufgabe, Straftaten zu verhindern, sondern Informationen zu sammeln. Wie gefährlich diese Zuschauerhaltung der Geheimdienste ist, zeigt der NSU-Komplex nur zu deutlich. Diese Haltung begegnet uns aber auch in anderen Fällen in der BRD und international immer wieder dann, wenn sich nach großen Anschlägen oder Straftaten herausstellt, dass die Geheimdienste alle Erkenntnisse vorliegen hatten, die zu einer Verhinderung der Taten gereicht hätten.
Die öffentliche Strategie der Inlandsgeheimdienste zur Erklärung ihres Nichteingreifens ist hingegen bis heute, diese systemimmanenten Fehler zu leugnen und sich stattdessen lieber als unfähig darzustellen. Es habe sich um eine endlose Reihe von Missgeschicken und Fehlern gehandelt, die mit mehr Geld, Personal und Befugnissen behoben werden könnten. Die Strategie geht auf: trotz gegenteiliger Beweise werden diese falsche Behauptung und die fehlerhafte Selbsteinschätzung zur offiziell einzig möglichen Erklärung erhoben. Noch heute gibt es das V-Leute-System, der Inlandsgeheimdienst erhält zunehmend mehr Befugnisse und als Belohnung aus dem Handeln im NSU-Komplex ein größeres Budget und mehr Personal.
Die Inlandsgeheimdienste
Nicht nur die V-Leute der Inlandsgeheimdienste selbst waren ein entscheidender Baustein zur Ermöglichung des NSU-Komplexes, auch die Mitarbeiter:innen der Behörden trugen ihren Teil dazu bei: zum einen jene V-Leute-Führer:innen, die ihren Quellen mit Geld, Informationen und Ausrüstung halfen und sie vor der Strafverfolgung schützten und zum anderen jene Mitarbeiter:innen in den Abteilungen für Beschaffung und Analyse, bei denen die Informationen über die Neonaziszene eingingen und die den Einsatz der V-Leute steuerten.
So ist bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz spätestens seit 2002 von der Existenz einer Gruppe mit dem Namen NSU wusste. Es gibt auch Hinweise darauf, dass sie darüber informiert waren, was diese Gruppe für Taten beging. Die Schreibtischtäter in den Behörden sahen frühzeitig, was vor sich ging und begannen deshalb nach der Selbstenttarnung der NSU-Zelle unter Hochdruck alle Akten zu vernichten, die belastende Beweise beinhalteten. Mitarbeiter des BfV, wie jener mit dem Decknamen Lothar Lingen, ließen Akten vernichten und zwar noch nach dem ausdrücklichen Verbot zur Vernichtung von Akten mit Bezug zum NSU. Diese Mitarbeiter:innen der Behörden waren es, die vor den Gerichten und den Untersuchungsausschüssen offensichtliche Lügen über ihr damaliges Wissen erzählten oder an sehr selektivem Gedächtnisverlust litten. Sie waren es auch, die Akten zurückhielten, Zeugen beeinflussten, Falschinformationen verbreiteten und eine Aufklärung mit aller Kraft sabotierten. Viele mussten nie irgendwo Rede und Antwort stehen und niemand von ihnen wurde ernsthaft zur Verantwortung gezogen, alle arbeiten in den Behörden weiter, die meisten inzwischen sicher befördert oder bereits im gut bezahlten Ruhestand. Wir wissen es leider nicht genau, denn nicht einmal die Namen dieser Verantwortlichen darf die Gesellschaft erfahren. Selbst Andreas Temme, der als Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes beim Mord an Halit Yozgat am Tatort war und wiederholt und nachweislich das Gericht in München und die Untersuchungsausschüsse belogen hat, hält weiterhin eine angenehme Beamtenstelle inne.
Doch nicht genug, dass die untere und mittlere Ebene der Inlandsgeheimdienste den NSU möglich machte. Die Behörden stinken wie der sprichwörtliche Fisch vom Kopfe her. Das wissen wir nicht erst seit dem öffentlichen Agieren von Hans Georg Maaßen, der seine extrem rechte Gesinnung kaum mehr zurückhält. Schon im NSU-Komplex lernte die Öffentlichkeit den Präsidenten des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz Helmut Roewer kennen. Roewer ist ein Kapitel für sich und es würde hier zu weit führen, alle seine Eskapaden zu benennen. Was wir wissen, ist, dass der Thüringer Heimatschutz unter seiner Amtsführung blühte, dass die Behörde den Feind klar im linken Spektrum verortete, das Untertauchen des NSU unterstützte und eine Aufklärung bis heute aktiv behindert. Es war auch Roewer höchstpersönlich, der seine Beamten anwies, mehrere von der NSU-Zelle im Untergrund produzierten „Pogromly-Spiele“ zu kaufen und damit der untergetauchten Zelle direkt Geld zukommen ließ. Roewer ist inzwischen auf Kosten aller Steuerzahlenden in Pension und verbringt seine Zeit damit, Bücher mit rechten Verschwörungserzählungen zu schreiben und bei rechten Medien wie der Jungen Freiheit und rechten Burschenschaften aufzutreten. An seiner radikal rechten Gesinnung besteht inzwischen kein Zweifel mehr.
Es wäre aber zu kurz gedacht, würde man glauben, die Behörden seien nur so rechts wie jene, die sie leiten und für sie arbeiten. Die deutschen Geheimdienste wurden von ehemaligen Nazis aufgebaut, geleitet und personell bestückt. Es flossen Ideen und Konzepte ein, die direkt aus den faschistischen Geheimdiensten stammten. Diese Ideen und Strukturen wirkten lange und teilweise bis heute fort. So wurde schon damals der Feind links gesehen, was in Zeiten des Kalten Krieges seinen Ausdruck fand in einem Kampf gegen den Ostblock und gegen alles, was in der BRD links der CDU stand. Der Kampf gegen tatsächliche und vermeintliche Kommunist:innen in Parteien, Betrieben und Organisationen jeglicher Art ist eine Kernaufgabe der Geheimdienste seit ihrer Gründung. Alle Linken wurden als potentielle Ost-Agent:innen betrachtet und sogar die SPD wurde überwacht. Gegen rechte Strukturen und den sich entwickelnden Rechtsterrorismus ging man gar nicht oder nur unter Druck von Außen vor. So sah auch Helmut Roewer die Aufgabe seines Amtes darin, die noch existenten oder vermuteten SED-Netzwerke zu zerschlagen, während die Neonazis eher als Verbündete wahrgenommen wurden. Der rechte Charakter der Behörden und ihres Personals sowie der strukturelle Fokus, gegen linke Weltanschauungen vorzugehen, sorgen dafür, dass rechte Gefahren verharmlost und ihre Strukturen nicht zerschlagen, sondern aufgebaut werden.
Hinzu kommen spezifische Probleme, die mit der behördlichen Arbeitsweise im Zusammenhang stehen. Die auf allen Ebenen herrschende Geheimhaltung öffnet dem unkontrollierten Handeln der Behörden und ihren Mitarbeiter:innen Tür und Tor. Besonders Roewer trieb es auf die Spitze: Er gründete ominöse Firmen mit Geldern des Geheimdienstes, deren Zweck gänzlich unklar war, führte rechtswidrig als Präsident der Behörde selbst V-Leute, die niemand außer ihm kannte und verwendete Gelder für Dinge, die er vor allen anderen geheim hielt. Das heißt, die Geheimdienste unterliegen nicht nur keiner Kontrolle durch Politik und Gesellschaft, sondern sogar in den Behörden ist es mit genug Willen möglich, eine eigene Agenda zu verfolgen, da es an Kontrolle und Rechenschaft fehlt. So wissen die einzelnen Beamt:innen aus Gründen der Geheimhaltung immer nur das, was sie wissen müssen, um im Falle von Verrat den Schaden zu begrenzen. Das führt in der Praxis dazu, dass vorhandenes Wissen nicht dort landet, wo es gebraucht wird. Oder dazu, dass Beamt:innen sich untereinander nicht kennen und nicht wissen dürfen, woran ihre Kolleg:innen arbeiten. Die nach innen gerichtete Geheimhaltung verhindert eine effektive Arbeit und begünstigt Machtmissbrauch. Gleichzeitig können sich auf diese Art die Beamt:innen vor Konsequenzen schützen, entweder, indem sie mit Blick auf die Geheimhaltung über Dinge nicht reden dürfen oder aber von diesen nichts gewusst haben wollen.
Die internen geheimdienstlichen Strukturen und Logiken machen Geheimdienste zu Fremdkörpern in Demokratien, da sie per Definition intransparent sind und sich jeder Form der Kontrolle und der Verantwortungsübernahme entziehen. Gleichzeitig profitieren diese Behörden von jedem aufgedeckten Skandal und erhalten stets mehr Befugnisse und Mittel. Die Geheimdienststrukturen und viele der Personen, die den NSU in der Form ermöglicht haben, sind noch da; sie sind besser ausgestattet als jemals zuvor und handeln weiterhin nach genau den Logiken und in den Strukturen, die erst zur Katastrophe geführt haben.
Polizei und Rassistische Ermittlungen
Der NSU-Komplex besteht aber nicht nur aus der gefährlichen Vermischung von mörderischem Neonaziuntergrund und mit diesem über das V-Leute-System eng vernetzten Inlandsgeheimdiensten, die lieber zuschauen statt verhindern. Ein wesentlicher Bestandteil des Komplexes ist der institutionelle Rassismus der Polizeibehörden.
Nach den Morden und den Sprengstoffanschlägen war das Muster der Ermittlungen immer und überall gleich, ob in Bayern oder Hamburg, in Dortmund oder Köln. Die Ermittlungen konzentrierten sich kurz nach der Tat und mit einer erstaunlichen Energie auf die Hinterbliebenen und das persönliche Umfeld der Opfer. Es mag zwar richtig sein, dass bei Mordtaten in den meisten Fällen die Täter:innen im direkten Umfeld zu suchen sind. Aber mit dieser Polizeiweisheit lässt sich das, was sich im NSU-Komplex über Jahre immer wieder von Neuem abgespielt hat und was zu keinerlei Aufklärung beitrug, nicht mehr erklären. An allen Tatorten wurden die Angehörigen komplett durchleuchtet. Es ging um Drogenhandel, Glücksspiel, Eifersucht und immer wieder um die Idee einer großen mafiösen Struktur, die für die Mordserie verantwortlich sei. Es wurden auch politische Hintergründe untersucht, aber lediglich solche, die mit den Opfern assoziiert wurden, wie PKK, Graue Wölfe oder der iranische Geheimdienst. Alle Hinweise der Angehörigen, dass es sich um rechtsterroristische Taten von Neonazis handelt, wurden entweder völlig ignoriert oder sogar mit aggressiver Einschüchterung von Seiten der Polizei beantwortet. Die Liste der Maßnahmen, die die Polizeibehörden gegen die Angehörigen und Überlebenden anwendete, ist lang: Sie reicht von stundenlangen Verhören, Abhörmaßnahmen, dem gezielten Verbreiten von Lügen über die Ermordeten bis hin zu Überprüfungen durch Finanzämter und Zollbehörden.
Die Gerüchte, die aus diesen Ermittlungen entstanden und teilweise von der Polizei an die Presse gespielt wurden, haben die Angehörigen verleumdet, sie gekränkt, in ihrer Nachbarschaft isoliert und stigmatisiert. Kurzum, sie haben die Opfer zu Täter:innen gemacht, sie haben die Angehörigen psychisch gequält und ihnen jahrelang Leid zugefügt, das für viele wie ein zweiter Anschlag auf sie wirkte. In der Keupstraße spricht man in diesem Zusammenhang von der „Bombe nach der Bombe“. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass die rassistischen Ermittlungen die politische Agenda des NSU mit anderen Mitteln fortgeführt haben.
Die Gründe für dieses Vorgehen sind vielfältig, aber der Begriff des institutionellen Rassismus hilft uns, die zugrunde liegende Struktur zu erfassen. Es waren weiße deutsche Ermittler:innen mit bewussten oder unbewussten rassistischen Einstellungen gegenüber Ausländer:innen und migrantisierten Menschen. Sie agierten in behördlichen Strukturen, die Ausländer:innen oder Migrant:innen zumeist eher als Täter:innen wahrnehmen. Es handelt sich um latente und manifeste Einstellungen in den Behörden, die nicht als solche wahrgenommen und damit auch nicht reflektiert wurden und werden. Viele Ermittler:innen sprachen vor Ausschüssen und im Gericht von ihrer „Erfahrung“ im Bereich der organisierten Kriminalität, die sie zu diesen Überlegungen brachten. Diese „Erfahrung“ geht von kriminellen Gruppen aus, die vorwiegend aus Ausländer:innen bestehen, und ignoriert gleichzeitig die Möglichkeit von Rassismus als Tatmotiv und faschistischen Strukturen als Täter:innen, auch weil man darüber einfach nichts weiß oder besser nichts wissen will. Immer wenn Zweifel an den ergebnislosen Ermittlungen in Richtung der organisierten Kriminalität aufkamen und auf neonazistische Täter:innen und rassistische Strukturen hingedeutet wurde, gab es vehementen Widerspruch. Man verwies darauf, dass die Inlandsgeheimdienste dazu keine Erkenntnisse gehabt hätten. Inzwischen wissen wir, dass sie sehr wohl Erkenntnisse hatten aber oft nicht mitteilten oder derart oberflächlich ins rechte Milieu schauten, dass kein Ergebnis herauskommen konnte. Hinweise der Opfer auf Nazis wurden immer als Schutzbehauptungen abgetan, die die These der verschwiegenen großen „Ausländermafia“ noch mehr zu bestätigen schienen. Die Angehörigen erzählten den Polizist:innen nichts über kriminelle Aktivitäten der Opfer, was als Indiz dafür gesehen wurde, dass sie selbst Teil einer kriminellen Gruppe sein müssten, die der Polizei aufgrund einer Art kriminellem Schweigekodex nicht helfen wollte.
Als nach Jahren eine operative Fallanalyse vorgelegt wurde, in welcher ein Experte darlegte, warum es auch sehr gut möglich sein könnte, dass es sich um rassistische Morde eines oder mehrerer Täter:innen aus der Neonaziszene handeln könnte, wurde dies abgeblockt. Angeblich sollen die Hamburger Ermittler:innen sogar damit gedroht haben, sich aus der gemeinsamen Ermittlungsgruppe zurückzuziehen, wenn man diese Richtung der Ermittlung einschlagen würde. Anstatt dem Gutachten nachzugehen, welches erstaunlich nah an dem war, was später bekannt wurde, erstellte man ein Gegengutachten, in dem ziemlich unmissverständlich rassistische Vorstellungen reproduziert wurden. Dort hieß es grob gesagt, dass die Täter der Mordserie nicht im deutschen Kulturkreis zu finden seien, da die Brutalität der Morde nicht dem entsprechen würde, was im deutschen Kulturkreis akzeptiert sei.
Die Ignoranz der Polizeibehörden an so vielen Orten gegenüber den Stimmen der Betroffenen von Rassismus, ihre existenzvernichtenden Ermittlungen gegen die Angehörigen und ihre bis ins Absurde gesteigerten Versuche eine große, geheime und kriminelle Ausländerorganisation „aufzudecken“, werden nur übertroffen von ihrem Verhalten nach der Selbstenttarnung des NSU. Vor den Untersuchungsausschüssen und vor Gericht erklärten die beteiligten Beamt:innen, warum ihre Ansichten, Methoden und Ermittlungen aus damaliger Sicht und im Grunde auch heute noch absolut richtig waren. Es gibt bei den Täter:innen aus der Polizei keinerlei Bewusstsein dafür, was sie über Jahre hinweg den Angehörigen und Überlebenden angetan haben und fast niemand der verantwortlichen Polizist:innen hat sich bei ihnen dafür entschuldigt oder musste mit Konsequenzen für das rassistische und unprofessionelle Verhalten rechnen.
Gleichzeitig berichten Menschen, die in Polizeibehörden versuchen, anhand des NSU-Komplexes ein Bewusstsein für Rassismus zu wecken, von einer totalen Blockade und Abwehrhaltung in der Polizei. Man kann sich maximal dazu durchringen, einzelne Fehler einzugestehen, aber sobald von Rassismus die Rede ist, wird auf Seiten der Polizei einfach dicht gemacht. Das zeigt, dass das Problem des institutionellen Rassismus auch weiterhin in den Polizeibehörden existiert und es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändern könnte. Somit sind auch hier die Strukturen, die den NSU-Komplex auf Seiten der Polizei ermöglicht haben, immer noch da und sie wirken weiter.
Ein Prozess ohne Aufklärung
Ein weiterer Teilbereich des NSU-Komplexes ist das, was als juristische Aufarbeitung bezeichnet wird. Das Gerichtsverfahren gegen ein Mitglied der NSU-Zelle und vier Unterstützer des NSU, das 373 Verhandlungstage über 5 Jahre in München lief, hat gezeigt, wo die Grenzen der Justiz bei der Aufklärung und Aufarbeitung von rechtem Terror liegen. Dabei sind manche dieser Grenzen sicherlich dem konkreten Fall, der Menge an Akten, Beweisen, Zeug:innen und Sachverständigen geschuldet, aber die wesentlichen Grenzen, die eine echte Aufklärung des NSU-Komplexes vor Gericht verhindert haben, sind struktureller Natur.
Zunächst ist das Versagen der Justiz in diesem Fall an der bewussten Einengung des Verfahrens deutlich geworden. Die Bundesanwaltschaft hatte sich schon vor Beginn des Prozesses auf eine Linie festgelegt, die politisch so gewollt war. Bis zuletzt hielt die Bundesanwaltschaft an ihrer Idee fest, dass es sich beim NSU um eine kleine, nur drei Personen umfassende Gruppe gehandelt habe, die abgeschottet vom Rest der Szene und lediglich von wenigen Unterstützer:innen versorgt, im Untergrund agierte, was eine Aufdeckung durch staatliche Stellen faktisch unmöglich gemacht habe. Die umfangreichen Recherchen aus der Zivilgesellschaft, die durch die Nebenklagevertreter:innen gegen die Bundesanwaltschaft in den Prozess eingeführt werden mussten, erschütterten das Narrativ der Bundesanwaltschaft nicht.
Es ließ sich trotz der Widerstände der Bundesanwaltschaft dennoch im Prozess deutlich machen, dass es berechtigte Zweifel daran gibt, dass die NSU-Zelle lediglich aus den drei bekannten Mitgliedern bestand. So müssten mindestens André und Susanne Eminger auch als Teil der Zelle gesehen werden. Beide waren über Jahre hinweg die engsten Bezugspersonen der drei bekannten Mitglieder der Zelle und sie haben diese in jeder erdenklichen Weise bis zum Schluss unterstützt. Neben den regelmäßigen Besuchen durch die beiden, half beispielsweise André Eminger vermutlich auch bei der Erstellung des Bekennervideos und als die Hauptangeklagte nach der Inbrandsetzung des Verstecks der Zelle floh, waren die Emingers ihre erste Zuflucht. Dort half man ihr, bis sie sich der Polizei stellte.
Auch der Umfang der Unterstützungsleistungen in den Jahren nach der Flucht für die drei bekannten Zellenmitglieder machte offenbar, wie groß und umfangreich das unterstützende Netzwerk ist. Immer wenn die Gefahr sich abzeichnete, dass möglicherweise noch andere Personen dem NSU zugerechnet werden könnten, verwies die Bundesanwaltschaft jedoch darauf, dass dies nicht in diesem Prozess zu klären sei, sondern in den Verfahren, die gegen neun weitere Beschuldigte laufen und nach dem Prozess in München zur Anklage gebracht werden würden. Auch von einem fortlaufenden Strukturermittlungsverfahren war die Rede, in dem die Bundesanwaltschaft laufend gegen Unbekannt ermitteln würde und in das alles ausgelagert wurde, was man im Münchner Prozess nicht thematisieren wollte. Da es sich in allen 10 Verfahren um Ermittlungen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung handelte, in welchem nur der Staat als Geschädigter gilt, war es den Anwält:innen der Angehörigen der echten Opfer nicht gestattet, als Nebenkläger:innen zu fungieren und somit keine Akteneinsicht in diese als Black Box bezeichneten Verfahren zu erhalten.
Mehrere Jahre nach Ende des Münchner NSU-Prozesses lässt sich nun feststellen, dass sich all diese Behauptungen, es gäbe weitere Prozesse, in denen weitere Unterstützer:innen zur Verantwortung gezogen werden würden, in Luft aufgelöst haben. Kein einziger Prozess wurde mehr gegen Unterstützer:innen des NSU geführt und auf die regelmäßige Nachfrage was der Stand der zehn noch laufenden Ermittlungsverfahren ist, erfährt man nur, dass diese Verfahren weiter geführt werden. Das diese aber jemals zur Anklage gebracht werden, scheint nach all den Jahren immer unwahrscheinlicher. Vermutlich werden diese Verfahren irgendwann einfach eingestellt. Ziel des Prozesses in München war es demnach nicht, ein rechtsterroristisches Netzwerk aufzudecken, sondern das Kapitel NSU endgültig abschließen zu können, indem man sich auf die Aburteilung der geringstmöglichen Anzahl an Personen konzentrierte. Selbst das ist nicht gelungen, denn am Tag der Urteilsverkündung durfte der überzeugte Nationalsozialist und Terrorhelfer André Eminger – einer von den wenigen Angeklagten – das Gericht als freier Mann verlassen und die Urteile gegen die anderen Unterstützer fielen verhältnismäßig milde aus.
Neben der Engführung des Verfahrens war es das Ziel der Bundesanwaltschaft, alles dafür zu tun, das Handeln der Behörden aus dem Blick der Öffentlichkeit zu nehmen, um diese vor Kritik zu schützen. Dies offenbarte sich in den wiederholten Gegenreden der Bundesanwaltschaft zur Zulassung von Anträgen der Nebenklage, die sich um die Frage der Verstrickung und Verantwortung der Behörden drehten. Auch die teils untätige, teils verteidigende Art und Weise, wie Zeug:innen aus Geheimdiensten, Polizei und sogar Neonazi-V-Leute durch die Bundesanwaltschaft befragt wurden, machte deutlich, dass es hier nicht darum ging, lückenlose Aufklärung zu betreiben. Es wurde in diesem Verhalten eindeutig klar, dass der Prozess der Entlastung der Behörden dienen sollte und die BAW alles dafür tat, dass die staatlichen Stellen vor Aufklärung ihrer Verstrickungen und Kritik geschützt wurden. Dies ist im Übrigen nicht nur im NSU-Prozess zu beobachten gewesen, sondern liegt in der Struktur der Staatsanwaltschaften begründet. Diese unterstehen immer einem Ministerium, das ihnen gegenüber politisch weisungsbefugt ist. Gleichzeitig vertritt die Bundesanwaltschaft im Prozess auch den Staat und wird schon aus diesem Grund nicht versuchen, andere staatliche Stellen ernsthaft zu kritisieren oder gar eine Aufklärung gegen deren Willen voranzutreiben. Eindeutig zeigt sich hier, dass der Staat nicht Willens und in der Lage ist, gegen sich selbst zu ermitteln. Vielmehr behindert er eine umfassende Aufklärung.
Der vorsitzende Richter im Prozess machte immer wieder deutlich, dass es in dem Verfahren nur um die vorgeworfenen Taten gegen die Angeklagten in einem sehr engen Verständnis gehe. Diese Vorgabe ergibt sich aus der bundesdeutschen juristischen Logik, dass es in einem Strafprozess, nicht – wie oftmals angenommen – darum geht, die Wahrheit zu ermitteln, sondern darum, zu prüfen, ob die vorgebrachten Beweise für eine Verurteilung der Angeklagten ausreichen. Diese strafprozessuale Logik widerspricht damit dem, was sich die Angehörigen und Überlebenden erhofft hatten, nämlich einer Aufklärung darüber, wer alles für die Morde und Anschläge verantwortlich ist und wie viel Staat im NSU-Komplex steckt. Versuche der Nebenklage im Sinne ihrer Mandant:innen eine weiterreichende Aufklärung oder gar eine gesellschaftliche Perspektive auf beispielsweise den Rassismus in Behörden einzubringen, wurden vom Gericht weitestgehend unterbunden.
Die Angehörigen der Opfer des NSU bekamen mehr als deutlich zu spüren, dass sie mit ihrer Perspektive, ihrem Wissen und ihrem Wunsch nach Aufklärung vom Gericht nichts zu erwarten hatten. Schildern durften sie meist nur das, was aus Sicht des Richters zum Thema der Verhandlung gehörte. Die Hoffnung der Angehörigen nach all den Jahren, in denen sie so viel Leid erfahren hatten, endlich auch im Gericht Gehör zu finden, ihr Leid zu schildern und ihren Ruf wiederherzustellen, wurden damit zunichte gemacht. Einige Angehörige schafften es dennoch, sich entgegen des Widerstands des vorsitzenden Richters Gehör zu verschaffen und ihr Leid sowie ihre Forderungen zu artikulieren.
Wer hingegen ausgiebig Gelegenheit hatte, sich in diesem Prozess zu produzieren, waren die Angeklagten, ihre Verteidiger:innen und die Zeugen:innen der Naziszene. Wenn auch viele schwiegen oder sich nicht erinnern wollten, nutzten sie doch die Möglichkeit ihre Ideologie in verharmlosender Art und Weise zu verbreiten und sich selbst als Opfer zu inszenieren. Nazizeug:innen sprachen davon, dass sie ihr Land vor der „Überfremdung“ retten wollten und dabei ständig vom Staat und der Antifa angegriffen würden. Manche Angeklagte gestanden zwar, redeten aber im gleichen Atemzug ihre eigene Rolle klein und taten stattdessen so, als hätte es sich bei ihrer Tätigkeit in der Naziszene um unpolitische Jugendarbeit gehandelt. Diese abstoßenden Opferinszenierungen, die man von der radikalen Rechten in der Öffentlichkeit, aber besonders in Prozessen zur Genüge kennt, ging bis zur Hauptangeklagten, die behauptete, sie selbst sei Opfer der beiden anderen Mitglieder der NSU-Zelle gewesen. Sie sei diesen hörig und von ihnen abhängig gewesen, hätte immer erst hinterher von den Taten erfahren und sei dann regelmäßig geschockt gewesen. Gleichzeitig werde sie angeblich von der Nebenklage völlig ungerechtfertigter Weise angegriffen. Diese Form der Täter-Opfer-Umkehr in den Einlassungen der Hauptangeklagten war ein wahrer Tiefpunkt des gesamten Verfahrens. In ihrer Weigerung, Fragen der Nebenklage zu beantworten, sich ernsthaft zu entschuldigen oder auch nur ein bisschen an der Aufklärung mitzuarbeiten, um das Leid der Angehörigen zu lindern, wird deutlich, wie verlogen und niederträchtig die Selbstinszenierung der Hauptangeklagten im Prozess war.
Die Abschlussplädoyers der Verteidiger:innen der Angeklagten, die nach all den Fakten aus der mehrjährigen Beweisaufnahme dennoch fast alle den Freispruch ihrer Mandant:innen forderten, waren in weiten Teilen unerträglich. Neben der bekannten Verharmlosung und Leugnung der vorgeworfenen Taten ließen besonders zwei Angeklagte über ihre Anwält:innen glühende Bekenntnisse zum Nationalsozialismus verkünden. Ihre aus der Neonaziszene stammenden Anwält:innen nutzten die Aufmerksamkeit der Abschlussplädoyers sogar für Lobpreisungen des historischen und aktuellen Nationalsozialismus gespickt mit Zitaten von Hitler, Goebbels usw.
Dass derartige Inszenierungen der Angeklagten möglich sind, während die Opferperspektiven aktiv verdrängt werden, liegt unter anderem auch in der Logik bundesdeutscher Strafprozesse begründet. Diese konzentrieren sich auf die Täter:innen mit ihren Handlungen und Motiven, während die Aussagen der Opfer nur Mittel zum Zweck sind, um zu erfahren, ob die Angeklagten verurteilt werden können. Somit hat allein die strafprozessuale Logik des Verfahrens bereits dazu beigetragen, den Täter:innen eine Bühne zu bieten und die Angehörigen sowie Überlebenden erneut zu marginalisieren.
Über diese prozessimmanenten Logiken hinaus hatte der Prozess aber vor allem eine politische Aufgabe zu erfüllen: Er sollte das politisch gewünschte Narrativ bestätigen, symbolisch die Macht des Staates wiederherstellen und gleichzeitig den NSU-Komplex mit einem Urteil für beendet erklären. Damit diente der Prozess den Zielen des Staates und nicht der versprochenen lückenlosen Aufklärung, trug nichts zur Linderung des Schmerzes der Angehörigen bei und sorgte erst recht nicht für das, was sich viele gewünscht hatten, nämlich Gerechtigkeit.
Ganz konnte die staatliche Agenda nicht wie geplant durchgezogen werden, denn das Bündnis aus Angehörigen der Opfer, Überlebenden der Anschläge, engagierten Vertreter:innen der Nebenklage und zivilgesellschaftlicher Initiativen und Einzelpersonen hat es geschafft, das staatliche Narrativ öffentlich sichtbar zu widerlegen, die ausgeblendeten Themen in den Prozess zu tragen und somit den Prozess zumindest teilweise auch in einen Ort der Aufklärung zu verwandeln.
Die Politik der Vertuschung
Wenn man sich vor Augen führt, wie der Verbund aus Neonaziszene und Geheimdiensten über das V-Leute-System den NSU-Komplex erschaffen hat, wie der institutionelle Rassismus in den Polizeibehörden geleugnet und eine juristische Aufklärung bis heute verhindert wird, erkennt man im nächsten Schritt, dass dies nicht ohne den Rückhalt aus dem Politischen Raum passieren konnte. Dabei spielen verschiedene Mechanismen eine Rolle.
In der BRD wird seit ihrer Gründung rechtsradikale Gewalt traditionell verharmlost und faschistischer Terror kleingeredet. Rechtsradikale Gewalt war immer etwas, das möglichst nicht thematisiert werden sollte. Wenn der öffentliche Druck der Betroffenen oder der Zivilgesellschaft dennoch steigt, wurden und werden die gleichen Verhaltensmuster aktiviert. Zunächst wird von Einzeltäter:innen gesprochen, also sowohl verneint, dass es rechte Gruppen, Organisationen oder Netzwerke gibt, die im Hintergrund dieser Taten stehen. Weiterhin wird verharmlost, also z. B. behauptet, dass Nazis gar nicht in der Lage wären, solche komplexen Strukturen unbemerkt aufzubauen, oder dass es sich lediglich um Böller statt um Sprengstoffanschläge gehandelt habe, oder dass es sich um unpolitische oft alkoholisierte Jugendliche handele und nicht um organisierte Nazis usw. Gleichzeitig wird von konservativer Seite stets reflexhaft auf die Gefahr von links verwiesen und davor gewarnt, einseitig nur nach rechts zu schauen, selbst dann, wenn es um Morde geht.
Gründe für diese Verharmlosung und Relativierung von rechtsradikaler Gewalt und faschistischem Terror sind unter anderem in dem Versuch auszumachen, die eigenen nationalistischen und rassistischen Ideologien zu „retten“. Diese Ideologien sind in der ganzen Gesellschaft, aber vor allem in konservativen und rechten politischen Parteien weit verbreitet. Daher muss eine Verbindung zwischen den eigenen rechten Weltanschauungen und der Gewalt der Nazis schon aus Gründen des Schutzes der eigenen Persönlichkeit kategorisch geleugnet werden, egal wie offensichtlich nationalistisch und rassistisch die eigenen politischen Kampagnen sind. Rassismus wird höchstens einem politischen rechten Rand zugeordnet. Der eigene Patriotismus sei nicht zu vergleichen mit dem chauvinistischen Nationalismus einer als extremistisch titulierten und damit sprachlich bereits aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Gruppe.
Was für die eigene Persönlichkeit gilt, zählt umso mehr für das Objekt der eigenen Verehrung, nämlich der Deutschen Nation oder des Staates BRD. Dieser muss vor Kritik und einem Ansehensverlust in der internationalen Öffentlichkeit geschützt werden. Sich außerdem als das geläuterte Deutschland zu präsentieren, das eine Art Weltmeister der kritischen Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit darstellt, gehört zum eigenen nationalistischen Mythos. In diese Inszenierung der BRD passen organisierte faschistische Gruppen, ein gesellschaftlicher oder sogar institutioneller Rassismus und der ausbleibende Kampf gegen faschistische Strukturen einfach nicht.
Neben der Verharmlosung von rechtsradikaler Gewalt und faschistischem Terror zur Rettung des eigenen Nationalstolzes gibt es die beim NSU-Komplex unübersehbar gewordene und politisch gewollte Verhinderung einer umfassenden Aufklärung zum Schutz von staatlichen Stellen. Während Angela Merkel nach der Selbstenttarnung des NSU auf der staatstragenden Gedenkfeier für die Opfer noch eine umfassende Aufklärung der Verantwortlichen und Hintermänner versprach, wurde zu diesem Zeitpunkt in den zuständigen Behörden bereits fleißig an der Vernichtung von belastenden Informationen gearbeitet. Nachdem die politisch Verantwortlichen z. B. in den Innenministerien von Bund und Ländern anfingen, sich mit der Materie zu beschäftigen und die reale Aufklärung durch Betroffene, Hinterbliebene und die Zivilgesellschaft immer mehr Skandale zu Tage förderte, schwenkten die verantwortlichen Politiker:innen schnell um. Verbal stellte man sich an die Spitze der Aufklärung, aber real wurde und wird diese bis heute verhindert. Wir sehen das in den weiterhin gesperrten und geheimen Akten, die den Untersuchungsausschüssen und auch den Prozessbeteiligten in München vorenthalten wurden und werden. Wir sehen es in den eingeschränkten Aussagegenehmigungen von Geheimdienstmitarbeiter:innen und Polizist:innen. Und wir erkennen es in dem völligen Ausbleiben von jeglichen Konsequenzen für Beamte des Staates, die sich im Kontext des NSU-Komplexes schuldig gemacht haben.
Im Rahmen des NSU-Komplexes tauchte immer wieder die These vom „tiefen“ Staat auf, also einer sich bereits verselbstständigten, von der politischen Führung entkoppelten Exekutive, die ohne das Wissen der Staatsspitze eine eigene Agenda vorantreibt. So sehr diese Analyse in manchen Punkten zutreffend das unkontrollierte Eigenleben von beispielsweise den deutschen Geheimdiensten beschreibt, so ist die These dennoch nicht korrekt. Denn die Verhinderung der Aufklärung erfolgte eben nicht gegen die politisch Verantwortlichen, sondern auf deren Weisung hin. Das konnte man immer wieder erleben, sei es bei Volker Bouffier (CDU), der das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen und dessen Mitarbeiter Andreas Temme schützt oder Klaus-Dieter Fritsche (CSU), der im Untersuchungsausschuss sagte: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“. Und da in den Jahren, die der NSU aktiv war, Politiker:innen, sowohl der CDU, CSU, aber auch der SPD Verantwortung trugen, gab und gibt es hier bis heute eine große Koalition der Vertuschung. Das oberste Gebot der zuständigen Politiker:innen und der ihnen unterstehenden Bundesanwaltschaft lautet zusammengefasst: Staatsschutz. Denn immer, wenn wichtige Erkenntnisse, die der Aufklärung des NSU-Komplexes dienen, als geheim eingestuft oder mit eingeschränkter Aussagegenehmigung belegt wurden, war das Argument zu hören, die Beantwortung der Frage oder die Einsicht in die Akten führe zu Erkenntnissen, die, wenn sie öffentlich würden, dem Staate und der Funktionsfähigkeit seiner Behörden schaden könnten. Der Schutz des Staates steht hier also unmissverständlich über den Anliegen der Angehörigen, Überlebenden und der Öffentlichkeit. Es bleibt abzuwarten, ob die Öffentlichkeit in ferner Zukunft erfahren darf, welche Geheimnisse in den Aktenschränken liegen oder ob dieses Wissen tatsächlich so gefährlich für den Staat ist, dass es niemals bekannt werden darf.
Die Personen, die an der Vertuschung bis heute arbeiten, sind noch im Dienst und ihre Strukturen stärker als je zuvor. Sie werden eine Aufklärung so lange wie möglich verhindern. Es hat sich im NSU-Komplex mehr als deutlich gezeigt, dass der Staat nicht gegen seine eigenen Strukturen Aufklärung und Wahrheitsfindung betreiben will. Es liegt somit wieder einmal an der kritischen Zivilgesellschaft den Staat zur Aufklärung zu zwingen.
Der gesellschaftliche Rassismus
Alles bis zu diesem Punkt zur Entstehung und zum Wirken des NSU-Komplexes Geschriebene hat daran mitgewirkt, den mörderischen NSU-Komplex entstehen und wirken zu lassen.
Wenn man sich fragt, was die meisten dieser einzelnen Elemente miteinander verbindet, kommt man zu dem großen und lange Zeit totgeschwiegenen Thema, über das die BRD gerne schweigt: Es geht um den gesellschaftlichen Rassismus, der in weiten Teilen der Bevölkerung latent oder manifest existiert und der den Nährboden darstellt, auf dem sowohl der alltägliche Rassismus in Wort und Tat, der institutionelle Rassismus in den Behörden und der eliminatorische Rassismus der Naziszene wächst.
Eine tiefgreifende Debatte darum, was Rassismus eigentlich ist und wie er in welchen Formen in der BRD existiert, ist längst überfällig und erst jetzt scheinen sich Möglichkeitsräume für Debatten und ein gesellschaftliches Lernen zu öffnen. Dem stehen viele Faktoren entgegen, die auch im NSU-Komplex immer wieder sichtbar wurden. Es sind die bereits beschriebenen Mechanismen der Abwehr des Themas, die mit dem Verschweigen, Verkleinern und Verharmlosen von Rassismus einhergehen. Es ist das Wegschieben des Problems aus der imaginären Mitte der Gesellschaft an einen imaginären Rand eben dieser. Es existiert ein absolutes Wissensdefizit des überwiegenden Teils der Bevölkerung zum Thema Rassismus und den für Betroffene täglich wahrnehmbaren Folgen. Es ist aber auch die aktive Förderung von rassistischen Denkmustern durch die Politik und Medien, die den Rassismus in der Gesellschaft erzeugen und reproduzieren.
Im NSU-Komplex waren nicht nur, wie oben beschrieben, die Nazis oder die Behörden, die rassistisch handelten, es war auch die Mehrheitsgesellschaft, die durch die anerzogenen und verinnerlichten rassistischen Denkmuster ignorierte, was sich vor ihren Augen über Jahre abspielte. Während die politisch Verantwortlichen bei den Taten keinen Rassismus und keine Nazis am Werk sahen, weil sie es nicht sehen wollten, weil es das nicht geben durfte, weil man doch Behörden hatte, die einem davon berichten müssten, wenn es das gäbe, ignorierten die Ermittler:innen das migrantische Wissen, welches die Täter und ihre rassistischen Motive aus der eigenen Erfahrung heraus sofort erkannt hatte. Die Polizei sah mit einer strukturell verankerten, rassistischen Grundhaltung nur Personen, die nicht deutsch waren und damit irgendwie verdächtig, abgeschottet und kriminell. So wurden Opfer, Angehörige und Betroffene zu Fremden erklärt, zu Tätern und Feinden. Die Geheimdienste sahen und hörten viel, aber es kam ihnen schlichtweg nicht problematisch genug vor, um einzugreifen. Den Behörden fehlt bis heute die Fähigkeit und der Wille, rassistische Muster und Strukturen zu erkennen, zu verstehen und abzubauen. Der Schutz von People of Colour, Ausländer:innen oder Migrant:innen scheint keine Priorität zu besitzen, während Taten „gegen den Staat“ mit aller Härte verfolgt werden.
Nicht zu vergessen sind jene Medien, die über die Anschläge berichteten und darin auch nur das sahen, was sie durch ihren internalisierten Rassismus sehen konnten und was ihnen die ach so vertrauensvollen Quellen in den Behörden auch immer wieder bestätigten, nämlich kriminelle und düstere Parallelgesellschaften von Ausländer:innen und Migrant:innen. Medial wurden diese Bilder und Interpretationen nicht nur nicht hinterfragt, sondern aktiv befeuert und verschärft. Die mediale Berichterstattung über die Morde und Sprengstoffanschläge hat an allen Tatorten dazu beigetragen, die Opfer und ihre Angehörigen weiter zu diffamieren. Es scheint, als wäre keiner der Journalist:innen jemals auf die Idee gekommen, sich wirklich mit den Betroffenen zu unterhalten. Stattdessen schrieb man Pressemitteilungen von Behörden ab. Diese Form des unkritischen Journalismus ist sehr verbreitet. In dem unsäglichen Begriff der „Dönermorde“ kulminierte das rassistische Stereotyp und reduzierte nicht nur die Opfer, sondern gleich eine ganze Bevölkerungsgruppe auf ein Imbissgericht. Auf diese Weise verschwanden die Opfer und ihr Leid für lange Zeit aus dem Sichtfeld.
Doch auch die sich selbst als aufgeklärt, antirassistisch und in allen Belangen progressiv verstehende Linke und linksradikale Bewegungen waren ignorant. Eigentlich waren die Terrorkonzepte der Nazis bekannt. Man wusste, wozu sie fähig sind. Eigentlich war bekannt, dass der Version der Behörden nicht einfach geglaubt werden kann und eigentlich gab es genug Punkte, an denen man misstrauisch werden konnte. Und dennoch gab es keine linke Aufmerksamkeit für die Sprengstoffanschläge und die Mordserie, keine Kontaktaufnahme zu den Angehörigen oder Betroffenen, keine Beteiligung an der Demonstration der Angehörigen, es gab einfach nichts. Der Grund dafür ist, dass zum einen natürlich auch in einer linken und progressiven Bewegung in den Köpfen noch anerzogene rassistische Vorurteilsstrukturen existieren, zum anderen hatten viele vielleicht immer noch ein gewisses Grundvertrauen darauf, dass der Staat schon richtig ermitteln würde. Entscheidender war aber die Tatsache, dass es kaum Verbindungen von einer mehrheitlich weißen und oftmals studentisch geprägten linksradikalen Bewegung zur migrantischen Arbeiterklasse und Mittelschicht gibt. Man kennt sich nicht, ist nicht miteinander organisiert, verkehrt nicht in den gleichen Räumen und hat vielleicht sogar Berührungsängste. Der NSU-Komplex war für die gesellschaftliche Linke und die linksradikale Bewegung ein Schock, aber einer aus dem man gelernt hat. Jetzt gilt es, diese Lehren nicht wieder zu vergessen und in alte Muster zurückzufallen.
Der alltägliche, der strukturelle, der institutionelle und der gesellschaftliche Rassismus, der sowohl den Nährboden für die Taten, für die Ignoranz gegenüber dem migrantischen Wissen und für die kontinuierliche Verletzung der Angehörigen und Betroffenen darstellt, ist immer noch da und es wäre naiv zu glauben, er verschwindet bald. Da dieser Rassismus immer wieder zu Hass und Gewalt, zu Leid und Tod aber auch zu anhaltender Unterdrückung und Ungerechtigkeit führt, ist es die Pflicht, ihn auf allen Ebenen zu erkennen, zu verstehen und zu bekämpfen. Das beginnt bei der kritischen Hinterfragung eigener anerzogener, verinnerlichter und in vielen Fällen unbewusster rassistischer Gedankenmuster, geht über die Analyse, Kritik und Abschaffung struktureller und institutioneller Rassismen, die gesellschaftliche Bildung zum Thema bis hin zur aktiven und entschlossenen Zerschlagung aller rassistischen und faschistischen Propaganda- und Gewaltstrukturen.
Der Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit
Neben den Personen und Strukturen, die den NSU-Komplex ermöglicht haben, gibt es aber auch jene Strukturen und Personen, die seit den ersten Taten mit einer unglaublichen Ausdauer bis heute für echte Aufklärung und Gerechtigkeit kämpfen.
Da sind zuallererst die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden der Anschläge zu nennen. Sie haben trotz aller Widerstände durchgehalten, haben bereits lange vor der Selbstenttarnung des NSU auf die wahren Hintergründe der Taten und die wahren Täter:innen hingewiesen. Sie wurden dafür angegriffen, eingeschüchtert und verleumdet, sie wurden mit allen Mitteln des Staates traktiert und viele von Ihnen haben ihre Existenzen darüber verloren. Aber ihr Kampf für die Wahrheit ging weiter, mal lauter, mal leiser.
Nach der Selbstenttarnung des NSU stießen zu den bis dahin Alleingelassenen neue Unterstützer:innen, die geschockt von den Taten und beschämt über ihre eigene Ignoranz begannen, sich dem Kampf um Aufklärung und Gerechtigkeit anzuschließen. Es entstand ein vielfältiges Netzwerk aus Gruppen und Personen, das unterschiedlicher kaum sein konnte. Antifaschistische Recherchekollektive, engagierte Anwält:innen, investigative Journalist:innen, Künstler:innen, Politiker:innen, organisierte oder einzelne Aktivist:innen und viele mehr, die alle in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern, zu denen sie Zugang hatten, versuchten, den NSU-Komplex zu entwirren und letztendlich aufzulösen. Seit 2011 wurden Unmengen an Informationen zu allen Aspekten des Komplexes recherchiert, erarbeitet, gesammelt, analysiert und in unterschiedlichster Weise verständlich aufbereitet. In unzähligen Texten, Veranstaltungen, Theaterstücken, politischen Aktionen und vielem mehr wurden die Skandale thematisiert und im Anschluss Stück für Stück Lehren aus dem NSU-Komplex erarbeitet. Dabei war von Anfang an klar, dass die bisher verschwiegenen und unterdrückten Perspektiven der Angehörigen und Überlebenden immer eine zentrale Rolle zu spielen hatten und man vielfältige Verbindungen zwischen allen Gruppen aufbauen und die eigenen gesellschaftlichen Nischen verlassen musste.
Es wurde klar, dass man alle Teilaspekte, die den Komplex ermöglicht hatten, dramatisch unterschätzt hatte. Sowohl den Rassismus in allen seinen Varianten, die Geheimdienste und Polizeibehörden, aber auch die Neonaziszene. Es wurde deutlich, welchen naiven Mythen über die Funktionsweise des Staates man erlegen war, wie fatal die fehlenden Verbindungen zwischen migrantischen und weiß-deutschen Gruppen gewirkt hatten und wie essentiell eine gründliche Aufarbeitung der gemachten Fehler für die weitere Theorie und Praxis einer progressiven Gesellschaftsveränderung ist. Die Wut über die Lügen und die Vertuschung erzeugte Kraft und den Willen die Wahrheit ans Licht zu bringen, die gemeinsamen Kämpfe um die Schaffung von Gedenkorten, die geteilte Arbeit an der Beantwortung der vielen offenen Fragen und die starke Solidarität in den gemeinsamen Aktionen – all das hat starke Verbindungen erschaffen, die nicht wieder zerbrechen können. Das erarbeitete Wissen verschwindet nicht einfach und die Wut über die Verantwortlichen wird nicht erlöschen.
Auch wenn wir wissen, dass die im NSU-Komplex verwickelten, wirkenden Personen und Strukturen noch existieren und funktionieren, auch wenn wir wissen, dass Veränderungen nur in zähen Kämpfen errungen werden und dass der NSU-Komplex nicht aufgelöst ist, so ist dies alles Ansporn, um weiter zu machen. Das Versprechen, das man sich am Tag der Urteilsverkündung in München gegenseitig gegeben hatte, lautete, keinen Schlussstrich im NSU-Komplex zu akzeptieren, sondern den Kampf um Aufklärung, Gedenken und Gerechtigkeit weiterzuführen. Dieses Versprechen hat Bestand und es ist an uns allen es einzulösen.
Leseempfehlung
Bücher:
– Semiya Şimşek, Peter Schwarz: Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Rowohlt Berlin, Berlin 2013, ISBN 978-3-87134-480-0.
– Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU. Pantheon, München 2014, ISBN 978-3-570-55202-5.
– Andreas Förster (Hrsg.): Geheimsache NSU. Zehn Morde, von Aufklärung keine Spur. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2014, ISBN 978-3-86351-086-2.
– Matthias Quent: Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät. Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2016, ISBN 978-3-7799-3435-6.
– Kemal Bozay, Bahar Aslan, Orhan Mangitay, Funda Özfirat (Hrsg.): Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus (= Neue Kleine Bibliothek. Band 228). PapyRossa, Köln 2016, ISBN 978-3-89438-614-6.
– Juliane Karakayalı, Çağrı Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers (Hrsg.): Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Transcript, Bielefeld 2017, ISBN 978-3-8376-3709-0.
– Antonia von der Behrens (Hrsg.): Kein Schlusswort. Nazi-Terror – Sicherheitsbehörden – Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess. VSA, Hamburg 2018, ISBN 978-3-89965-792-0.
Internetseiten:
https://www.antifainfoblatt.de/dossier/der-nationalsozialistische-untergrund
https://www.apabiz.de/2018/kritische-begleitung-ein-blick-zurueck/