1990er / Bernau / Polizei / Justiz
In den Jahren 1993 und 1994 misshandelten Einsatzkräfte der Polizeiwache in Bernau systematisch Vietnames:innen, die sie wegen des Vorwurfs des illegalen Zigarettenhandels festgenommen hatten. Nach der Festnahme schlugen und traten die Polizeibeamten die Vietnames:innen auf der Wache und zwangen diese, sich auszuziehen und rassistische Grimassen (Auseinanderziehen der Augen) zu schneiden. Auch wurden in einigen Fällen entkleidete Festgenommene fotografiert. Andere Polizeibeamt:innen schauten dabei zu und griffen nicht ein.
Im Jahr 1996 wurden acht Polizeibeamte angeklagt, von denen vier im Laufe des Verfahrens freigesprochen wurden. Während des gesamten Verfahrens verweigerten die Angeklagten jegliche Aussage zu dem Geschehen. Auch die Kolleg:innen schwiegen zu den Vorwürfen. Einige Polizeibeamt:innen zogen auf internen Druck hin belastende Aussagen zurück, die sie 1994 gegenüber dem ermittelnden LKA gemacht hatten.
Die Strafverteidiger von sechs der acht Polizisten wurden von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) gestellt. Diese versuchten unter anderem mit kulturalistisch-rassistischen Mutmaßungen über eine vermeintliche „vietnamesische Mentalität“ die Glaubwürdigkeit der gegen die Beamten aussagenden Zeug:innen in Frage zu stellen. Auch konstruierten sie eine angebliche Verschwörung einer „vietnamesischen Zigarettenmafia“. Zudem zogen sie das Verfahren mit immer neuen Beweisanträgen in die Länge und beantragten regelmäßig, das Gericht für befangen zu erklären.
Die Strategie, das Verfahren in die Länge zu ziehen, hatte insofern teilweise Erfolg, dass aussagende Vietnames:innen trotz ihres Zeug:innenstatus nicht vor Abschiebungen geschützt waren, obwohl das Gericht ihnen einen solchen Schutz bis Prozessende zugesichert hatte. So wurden einige Zeug:innen aus Vietnam wieder eingeflogen, während anderen der Wiedereintritt verwehrt blieb. Zudem konnten Aussagen mehrerer Vietnames:innen, die das Gericht zwar durch richterliche Vernehmungen für den Fall einer Abschiebung hatte sichern lassen, nicht verwendet werden: Die dabei tätigen Dolmetscher:innen waren nicht in Brandenburg, sondern in Berlin vereidigt worden, sodass die Verteidigung durchsetzen konnte, dass die Aussagen vor Gericht nicht berücksichtigt werden durften.
Mitte 1998 wurden schließlich drei Polizeibeamte der Körperverletzung im Amt für schuldig gesprochen. Sie erhielten Bewährungsstrafen von zehn Monaten bis zu zwei Jahren. Ein vierter Beamter wurde aufgrund seines Nichteingreifens zu einer Geldstrafe verurteilt. Insgesamt berücksichtigte das Gericht 13 Fälle. Den drei seit 1994 suspendierten und zu Bewährungs-Haftstrafen verurteilten Polizisten wurde damit der Rückweg in den Polizeidienst versperrt.
In seiner Urteilsbegründung kritisierte der vorsitzende Richter scharf, dass sich angeklagte „Polizisten auf Falschaussagen der Kollegen verlassen“ könnten. In der Urteilsbegründung wurde zudem „ein gewichtiges Führungsproblem der Polizei“ konstatiert und kritisch angemerkt, die Ermittlungen seien dadurch erschwert worden, dass vietnamesische Zeug:innen abgeschoben wurden. Zugleich wurde jedoch als mildernder Umstand gewertet, dass die Vorfälle kurz nach der Wende stattgefunden hätten und die Polizist:innen damals noch Probleme mit dem neuen Recht gehabt hätten. Zudem seien sie in einem Staat aufgewachsen, der in diktatorischer Weise für Recht und Ordnung sorgte.
Die GdP bezeichnete das Urteil als Skandal und der Brandenburger GdP-Vorsitzende beklagte, dass den Aussagen der Vietnames:innen mehr geglaubt werden würde als den Aussagen der Polizist:innen. Ein Vertreter der Nebenklage kritisierte hingegen die lange Prozessdauer und die frühe Einstellung eines Teils der Verfahren, welche eine abschreckende Signalwirkung des Prozesses verhinderten.
Während des Verfahrens veröffentlichte die Berliner Beratungsstelle „Reistrommel“ 14 Gedächtnisprotokolle von festgenommenen Vietnames:innen, die alltägliche Misshandlungen nicht nur auf der Bernauer Wache, sondern auch auf Berliner Wachen dokumentierten. Eine Sprecherin des Vereins ging von mehreren hundert Übergriffen der Polizei gegenüber tatsächlichen oder vermeintlich vietnamesischen Zigarettenhändler:innen aus. Daraus entstehende Ermittlungsverfahren gegen Berliner Polizeibeamt:innen wurden entweder schon von der Staatsanwaltschaft eingestellt oder die Angeklagten freigesprochen. Auch ein dazu erstellter Bericht von Amnesty International, der die Misshandlungen dokumentierte, hinderte die Berliner Polizeiführung nicht daran, sich schützend vor ihre Beamt:innen zu stellen.
ähnliche Fälle: https://entnazifizierungjetzt.de/dezember-2009-juli-2010-berlin-polizei/ und https://entnazifizierungjetzt.de/16-02-2010-berlin-polizei-justiz/
https://taz.de/Reistrommel-fordert-Straffreiheit-fuer-Opfer/!1552515/
https://jungle.world/artikel/1998/19/probleme-mit-dem-neuen-recht
https://www.spiegel.de/politik/eine-art-freiwild-a-72e50523-0002-0001-0000-000013691074