19.02.2020 – 2022 / Hanau / Polizei / Justiz
Am 19. Februar 2020 tötet der 43-jährige Tobias R. in Hanau neun Menschen:
Gökhan Gültekin,
Sedat Gürbüz,
Said Nesar Hashemi,
Mercedes Kierpacz,
Hamza Kurtović,
Vili Viorel Păun,
Fatih Saraçoğlu,
Ferhat Unvar und
Kaloyan Velkov.
Sechs weitere werden teils schwer verletzt. Das Motiv des Täters, der anschließend sich und seine Mutter erschießt, ist Rassismus. Trotz der vollmundigen Betroffenheit von Verantwortlichen, zeigt sich an diesem Tag und auch danach, wie tief struktureller Rassismus in den Behörden verankert ist.
Die Abläufe vor, während und nach der Tat können als „Kette behördlichen Versagens” zusammengefasst werden. Diese ist geprägt von Unfähigkeit und Unwillen der beteiligten Behörden, von strukturellem Rassismus und einer Politik, die vollumfängliche Aufklärung verhindert. Um eine solche auch nach dem Anschlag einzufordern, hat sich die Initiative 19. Februar Hanau gegründet, die offene Fragen zur Tat und zum Umgang mit den Angehörigen hier zusammenfasst: https://19feb-hanau.org/wp-content/uploads/2021/02/Kette-des-Versagens-17-02-2021.pdf.
Versagen in der Tatnacht
Verschlossener Notausgang der Arena Bar: Der Notausgang der angegriffenen Shisha-Bar ist in der Tatnacht verschlossen. Dadurch gibt es keine Möglichkeit der Flucht. Zeugen berichten, dass die Polizei eine Verriegelung angeordnet hatte, um zu verhindern, dass sich Leute bei Razzien unbemerkt entfernen können. Polizei und Staatsanwaltschaft bestreiten dies. Es könne nicht geklärt werden, ob der Notausgang wirklich verschlossen war, da Ermittler:innen dies in der Tatnacht nicht überprüft hatten. Die erst durch eine Dienstaufsichtsbeschwerde der Familien der Opfer und mehrerer Überlebender gegen das Land Hessen (im März 2021) (https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-hanau-hanau-dienstaufsichtsbeschwerde-gegen-polizeibehoerden-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210324-99-952407) aufgenommenen Ermittlungen dazu werden eingestellt. Ein Überwachungsvideo, das im Juni 2022 auftaucht, zeigt jedoch, dass die besagte Tür nicht geöffnet werden konnte.
https://www.hanauer.de/hanau/hanau-anschlag-19-februar-kesselstadt-hessen-notausgang-tuer-anzeige-polizei-90172411.html
https://www.fr.de/rhein-main/main-kinzig-kreis/rassistischer-anschlag-hanau-video-neue-hinweise-notausgang-arena-bar-91587087.html
https://forensic-architecture.org/investigation/hanau-the-arena-bar
Versäumnisse im Dienst: Tatzeug:innen versuchen in der Nacht mehrfach, den polizeilichen Notruf zu erreichen. Die beiden Telefone sind überlastet und die Zentrale ist nicht durchgängig besetzt. In der Tatnacht werden gerade einmal fünf Anrufe über den Polizeinotruf 110 registriert, viele Anrufe kommen jedoch gar nicht erst durch. Auch die Anrufe von Vili Viorel Păun laufen ins Leere. Er verfolgte den Täter und wurde von ihm erschossen.
Die Polizei erreicht gegen 23:00 Uhr das Wohnhaus, in dem sich der Täter aufhält. Sie sichert und überwacht das Haus aber ungenügend: Der Täter könnte sich problemlos entfernen, um weitere Morde zu begehen. Erst um 3:00 Uhr stürmt die Polizei das Gebäude.
Weitere gravierende Fälle von „Unfähigkeit“ zeigen sich noch in der Tatnacht: Ein Polizist steht minutenlang bei dem verletzten Ferhat Unvar, ohne sich um ihn zu kümmern oder zu überprüfen, ob er noch lebt. Der Krankenwagen mit dem schwer verletzten Said Etris Hashemi darf nicht ins Krankenhaus fahren, weil ein Polizist die Abfahrt mit der Begründung verhindert, niemand dürfe den Tatort verlassen https://twitter.com/Dilanee/status/1364157095302602753.
Empathielosigkeit gegenüber den Angehörigen: Insgesamt ist das Vorgehen der Polizei in den Stunden und Tagen nach dem Anschlag von Chaos und mangelnder Empathie gekennzeichnet sowie von Rassismus gegenüber den Angehörigen geprägt. Augenzeug:innen berichten von überforderten Polizist:innen, die falsche Informationen vermitteln. Die Angehörigen, die sich am Tatort einfinden, werden in eine Turnhalle gebracht. Statt einer persönlichen und angemessenen Ansprache gegenüber den betroffenen Angehörigen, werden die Namen der Opfer hier laut verlesen. Andere Angehörige werden für Täter gehalten und sind gezwungen sich auf den Boden zu werfen, teilweise, weil man sie mit der Waffe bedroht. Die Polizei beschrieb ein Opfer als „südländisch“. Es dauert fünf Tage bis die Angehörigen erfahren, wo die Toten sind. Religiöse Rituale werden missachtet, sodass die Angehörigen sie nicht waschen können.
Auffällig rechts
Rechte Propaganda: Im Jahr 2002 stellt der Täter beim Polizeipräsidium Oberfranken eine Anzeige, die seinen Verfolgungswahn widerspiegelt. Ein Arzt diagnostiziert ihm eine „Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, paranoide Inhalte“. Eine solche Anzeige wiederholt er 2004 gemeinsam mit seinem Vater bei der Polizei Offenbach wegen Bespitzelung durch einen unbekannten Geheimdienst – und dennoch kommt es beide Male nicht zu einer längerfristigen psychiatrischen Behandlung. Als er 2018 eine Sexarbeiterin bedroht, geht die Polizei ihren Hinweisen nicht nach https://www.fr.de/rhein-main/main-kinzig-kreis/hanau-ort66348/attentaeter-von-hanau-bedrohte-sexarbeiterin-kritik-an-polizeieinsatz-in-bayern-91492818.html. Am 8. November 2019 reicht der spätere Attentäter beim Generalbundesanwalt und bei der Hanauer Staatsanwaltschaft eine etwa 24-seitige verschwörungsideologisch geprägte Anzeige ein. Bis 2020 taucht R. in 15 polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Akten auf, davon fünf Mal als Beschuldigter u.a. wegen Drogenbesitz und -schmuggels. Einträge ins Bundeszentralregister erhält er dennoch nicht. Seine rassistischen und antisemitischen Ansichten teilt R. zunehmend vor der Tat auch im Netz. Ab dem 13.02.2020 waren Videos und Pamphlete seiner extrem rechten Ideologie auf einer Website zu finden, inklusive des rassistischen Traktats, das als Bekenntnis des Täters betrachtet wird.
https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Hanau_2020
Schießtrainings: Schon seit 2012 trainiert R. darüberhinaus als Mitglied im Frankfurter Schützenverein. Wenige Monate vor seiner Tat nimmt er an Schießtrainings in der Slowakai teil.
Der Täter verhält sich also keineswegs unauffällig und steht aus unterschiedlichen Gründen mit verschiedenen Behörden in Kontakt. Hinzu kommen die offen im Netz geäußerten extrem rechten Traktate und die Schießtrainings in der Slowakei, die – würde der Verfassungsschutz seine Aufgabe ernst nehmen – zumindest bekannt hätten sein müssen.
Waffenbesitz und die Versäumnisse der Waffenbehörde
Trotz seines gefestigten rassistischen Weltbildes, das er auf der Website 2020 teilt, seinen von verschwörungsideologischem Wahn geprägten Anzeigen 2019 und seiner kurzen psychologischen Einweisung 2002 besaß der Täter legal Waffen. Warum? Um eine Waffe besitzen zu dürfen muss die zuständige Waffenbehörde eine Zuverlässigkeitsprüfung durchführen. Zuständig in diesem Fall ist die Waffenbehörde in Gelnhausen-Linsengericht. Eine Überprüfung auf psychische oder Suchterkrankung beim Gesundheitsamt bleibt aber aus. Die Waffenbehörde erteilt dem Täter 2013 somit eine Waffenbesitzkarte, die im Jahr 2019 mit erweiterter Befugnis verlängert wird. Mit der zusätzlichen „europäischen Feuerwaffenerlaubnis“ darf R. seine Waffe legal in Europa transportieren, genau zu jenem Zeitpunkt als R. die verschwörungsideologischen Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft stellt.
Das heißt, obwohl der Täter der Polizei bekannt war, weil er auf Grund seines Verfolgungswahns immer wieder Anzeigen stellte oder sich selbst strafbar machte, durfte er seine Waffenbesitzkarte behalten. Und bekam 2018 sogar eine neue Schusswaffe bewilligt. Inzwischen enthält die Zuverlässigkeitsprüfung eine Abfrage beim Verfassungsschutz. Dass der VS selbst in eine Reihe rechter Skandale verwickelt ist, wird dabei nicht thematisiert oder weckt bei den politisch Verantwortlichen keine Zweifel.
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/attentaeter-von-hanau-drei-waffenscheine-trotz-zwangseinweisung-a-44fe1fd4-1dfd-435b-8bf6-d98eed94bb23
https://www.sueddeutsche.de/muenchen/hanau-attentaeter-polizei-muenchen-1.5283797
Nebst ungeklärten Fragen dazu, wie es zu dieser Waffenerlaubnis kommen konnte, hätte gerade die Waffenbehörde Gelnhausen-Linsengericht in besonderer Alarmbereitschaft handeln müssen: Etwa ein Jahr zuvor, im Juli 2019, kam es zu einem Mordversuch in Wächtersbach im Main-Kinzig Kreis, bei dem von einem rechtsextremen, rassistischen Motiv ausgegangen werden kann https://www.belltower.news/neuer-rechtsextremer-mordversuch-in-hessen-anhaenger-rechtsextremer-ideologie-radikalisieren-sich-zusehends-88355/. Ein weiterer Vorfall bewaffneter Bedrohung und rassistischer Beleidigung ereignete sich in unmittelbarer Nachbarschaft am Juz in Kesselstadt im Mai 2018 https://www.fr.de/rhein-main/main-kinzig-kreis/hanau-ort66348/hanau-rechtsextremer-attentaeter-schon-anschlag-auffaellig-13752901.html.
Darüberhinaus hat das Bundesland Hessen die meisten Todesopfer rassistischen und rechtsextremen Terrors zu verzeichnen https://www.belltower.news/die-liste-193-todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990-36796/; https://verband-brg.de/pressemitteilung-der-hanau-untersuchungsausschuss-zu-gravierenden-fehlern-von-polizei-und-justiz-in-hessen-ist-von-bundesweiter-bedeutung/. Auch wenn die Zahl der den Behörden bekannten extrem rechten Akteur:innen mit Waffenerlaubnis 2020 um knapp 30 Prozent zum Vorjahr gestiegen ist, ändert das nichts an deren legalen Waffenbesitz: Bundesweit hatten die Sicherheitsbehörden bis Ende Dezember rund 1500 tatsächliche oder mutmaßliche Rechtsextremisten mit einer solchen Erlaubnis registriert. https://taz.de/Immer-mehr-Waffen-bei-Neonazis/!5829226&SuchRahmen=Print/
Zusammenfassend lässt sich sagen:
- Die Gefährlichkeit des Täters und seine rassistischen Einstellungen durch die Behörden wurden nicht rechtzeitig erkannt.
- Das Vorgehen der Polizei am Tatort war durch Unprofessionalität, Rassismus und mangelnde Empathie gekennzeichnet.
- Die Ermittlungen wurden nachlässig geführt und die Angehörigen falsch oder nicht informiert.
- Der mangelnde Aufklärungswille der Behörden setzt sich bis heute fort und gipfelt im Versuch der Vertuschung und Behinderung der Untersuchung.
- Die Angehörigen und ihre Unterstützer:innen lassen sich aber nicht entmutigen. Nur ihnen ist es zu verdanken, dass die Fakten über die rassistischen Morde in Hanau nach und nach ans Tageslicht kommen.
Weitere Informationen:
Fortlaufende Chronologie: https://www.hanau-steht-zusammen.de/chronologie
Aktuelles der „Initiative 19. Februar Hanau“: https://19feb-hanau.org/aktuell/
Aktuelle Infos zum Untersuchungsausschuss: https://19feb-hanau.org/untersuchungsausschuss/
Weitere Entwicklungen
Der Vater des Täters: Im Dezember 2020 muss die „Initiative 19. Februar“ eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Polizei stellen, damit diese endlich die Gefahr ernst nimmt, die vom Vater des Täters ausgeht. Er bedrohte Aktivistinnen und stellte mehrfach unter Beweis, dass er die Ideologie seines Sohnes teilt. Die Initiative beklagt, dass sie von der Polizei eine „Gefährdetenansprache unterlassen“ habe, das heißt nicht über die Gefährlichkeit des Vaters informiert wurde (https://www.fr.de/rhein-main/main-kinzig-kreis/hanau-ort66348/hanau-attentat-rassismus-vater-polizei-ueberwachung-90154320.html).
Auflösung des Frankfurter SEK: Im Juni 2021 wird bekannt, dass 13 von 18 Beamten des später wegen Rechtsextremismusvorwürfen aufgelösten Frankfurter SEK in Hanau im Einsatz waren.
https://www.ardmediathek.de/ard/video/doku-und-reportage/hanau-oder-dokumentarfilm/hr-fernsehen/Y3JpZDovL2hyLW9ubGluZS8xMjY5MzE/?xtor=CS1-231
https://19feb-hanau.org/2021/06/16/pressemitteilung-13-der-19-rechtsextremen-sek-beamten-waren-in-hanau-im-einsatz/
Untersuchungsauschuss: Im Juli 2021 nimmt der Hanau Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages seine Arbeit auf. Seine Arbeit wird immer wieder behindert, weil Vertreter:innen von Behörden versuchen, Zeug:innenaussagen zu verhindern.
ttps://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/hanau-anschlag-untersuchungsausschuss-polizeiwissenschaftler-stellungnahme-kritik-91421283.html
https://www.hessenschau.de/politik/hanau-untersuchungsausschuss-zeugenbefragung-kurz-nach-beginn-beendet,untersuchungsausschuss-anschlagvonhanau-zeugenbefragung-100.html
28.07.2022 Die Staatsanwaltschaft prüft, ob Landespolizeipräsident Roland Ullmann im Hanau-Untersuchungsausschuss gelogen haben könnte. Er hatte behauptet nichts von Problemen beim Notruf gewusst zu haben. Dabei zeigen zwei ältere interne Schreiben von ihm, dass er sich mit den Problemen beim Notruf befasst hatte.
Seit Juli 2022 prüft die Staatsanwaltschaft, ob Landespolizeipräsident Roland Ullmann im Bezug auf die Unkenntnis über Probleme im Notrufsystem gelogen hat.
15.9.2022 Die Staatsanwaltschaft Hanau stellt die Ermittlungen gegen die Waffenbehörde ein. Obwohl der Mörder von Hanau lange als psychisch auffällig bekannt war, hatte er eine Waffenbesitzkarte für die Pistolen mit denen er die Menschen erschoss. Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Entscheidung damit, dass die Behörde von den psychischen Auffälligkeiten des Täters nichts wusste.
https://taz.de/Ermittlungen-im-Fall-Hanau-eingestellt/!5877615/
01.11.2022 Der Vorsitzende des Hanau-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag hat Anklage gegen den Generalbundesanwalt erhoben. Ziel ist es, die Herausgabe der Akten ungeschwärzt zu erwirken.
06.02.2023 Der Generalbundesanwalt muss die bisher zurückgehaltene Akten an den parlamentarischen Untersuchungsausschuss herausgeben. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht.